Dagmar H. Mueller, Kerstin Völker: "Amanda und ihr Wackelzahn"
Spätestens wenn die Kinder in den
Kindergarten gekommen sind, beginnt etwas, das sich wahrscheinlich tendenziell
durch die gesamte Kindheit und Jugend hinzieht und bewusste, kritische Eltern
zum Verzweifeln bringen kann. Die Rede ist von der wohl angeborenen Sucht nach
dem Vergleich mit Anderen. Jeder Erwachsene weiß ein Lied davon zu singen; nicht
nur Frauen leiden darunter, Männer gehen lediglich anders damit um. Und dennoch:
das seelische Wohlbefinden der Menschen, die Qualität von Beziehungen und auch
viele unschöne Mobbings am
Arbeitsplatz, all das würde anders aussehen, hätten die Menschen schon in
ihrer Kindheit gelernt und erfahren, was es heißt, einzigartig zu sein, so
geliebt zu werden, wie sie sind, und bei aller gesunden Konkurrenz zu Anderen so
etwas wie eine solidarische Mitmenschlichkeit zu entwickeln, die dem Anderen
sein Eigenes lässt, auch wenn er uns in manchen Dingen überlegen ist oder
Anderes besser kann als man selbst.
Gute Bilderbücher können Eltern, die ja
meistens selbst nicht frei sind von dieser Sucht des Vergleichs und der Manie
des Komparativs, helfen, ihre Kinder dafür fähig zu machen.
"Amanda und ihr Wackelzahn", das neue Buch der bekannten Kinderbuchautorin Dagmar
H. Mueller und der Zeichnerin Kerstin Völker leistet dies in ganz außerordentlicher
Weise. Es benennt Konkurrenz- und Neidgefühle von Kindern ihren Geschwistern
und Freunden gegenüber, es lässt sie Wut und Zorn,
Trauer und Enttäuschung verbalisieren und ausagieren, und es lässt sie - mit
der Zeit - zu Einsichten und Aussichten kommen.
Amanda ist fünf Jahre alt. Sie lebt mit ihren
Eltern und ihrem Bruder in normalen, geordneten Verhältnissen. Wenn sie mittags
aus dem Kindergarten kommt, ist ein Erwachsener zu Hause und kann das mit
anderen Kindern dort Erlebte auffangen.
Amandas Bruder Benni ist gerade in
die Schule gekommen. Aber das ist es nicht, was Amandas Neidgefühle auslöst. Es
ist die Tatsache, dass er schon drei Mal einen Wackelzahn hatte und das auch
jedem jeden Tag erzählt und bei Vater und Mutter auf entsprechende elterliche
Bewunderung stößt. All dieses Getue um Bennies ausfallende Zähne geht Amanda
gehörig auf die Nerven.
Als ihr einziger Trost verschwindet, und auch
ihre Freundin Lisa, bisher so wie sie selbst ohne Wackelzahn, eines Morgens in
den Kindergarten kommt und stolz ihren beweglichen Schneidezahn vorzeigt, bricht
für Amanda ihre Welt zusammen. Aller elterlicher Trost ("Das kommt schon noch")
verpufft, und Amanda ist muffelig. Zornig kehrt sie aus dem Kindergarten zurück,
wütend sinnt sie sich allerlei Möglichkeiten aus, wenigstens einen Zahn zum
Wackeln zu bringen. Doch alles misslingt, weil eben auch ein Wackelzahn seine
Zeit braucht. Wieso verteilt der liebe Gott die Wackelzähne so ungerecht? Warum
haben manche, was ich nicht habe? Und überhaupt!!
Und dann, als sie sich
schon damit abgefunden hat, als sie wirklich gar nicht mehr an ihre Zähne denkt
und auch nicht an die von anderen Kindern, da ist es plötzlich soweit: Amanda
hat ihren ersten Wackelzahn!
Ein wunderbares Bilderbuch, das besonders
durch die schönen Zeichnungen von Kerstin Völker seine Qualität bekommt. Mein
Sohn David war begeistert von dem neuen Wort "muffelig", das er in diesem Buch
gelernt hat, und er lässt sich die Seiten, wo Amanda wütend ist, besonders gern
vorlesen. Ein Zeichen dafür, wie es diesem Buch gelingt, nötige und wichtige
Gefühle von Kindern so zum Ausdruck zu bringen, dass sich die Kinder damit
identifizieren können.
Sicher werden die Wackelzähne, und wer sie zuerst
hat, nicht der letzte Anlass für Vergleiche mit Anderen sein. Aber das Buch gibt
auf für Kinder lustige Weise Hinweise darauf, dass für jeden alles zu seiner
Zeit kommt.
Herzlichen Glückwunsch allen Büchermachern zu diesem schönen
Kinderbuch!
(Winfried Stanzick; 02/2006)
Dagmar H. Mueller, Kerstin Völker: "Amanda und ihr
Wackelzahn"
Annette Betz, 2006. 32 Seiten. (Ab 4 J.)
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