Der Moment des Wolfgang E.

Wolfgang E., 36, Industriekaufmann mit starker Brustbehaarung, hatte in einem Feinkostgeschäft zwei Käsebrötchen gekauft und ging weiter den Gehsteig entlang. Nach etwa zwanzig Metern spürte er, daß sein Moment gekommen war. Er verlangsamte seinen Gang, ließ die Tüte mit den Brötchen in einen Abfallkorb fallen und blieb nach ein paar Schritten stehen. Die rechte Hand legte er auf einen grau gestrichenen Hydranten. So stand er da, ohne die verwunderten Passanten zu beachten, und sah zu einem Bräunungsstudio auf der anderen Seite der Straße hinüber.

Während die Berichte über das, was sich danach ereignete, stark voneinander abweichen, ist dieser Moment im Leben des Wolfgang E. durch eine Aufnahme des Bergfotografen Andresch genau dokumentiert. Andresch befand sich auf der Suche nach Motiven für eine Ausstellung, die an den Erfolg seiner Matterhorn-Ausstellung anknüpfen sollte, zufällig an diesem Tag in der Stadt.

Wolfgang E. selbst sagte dazu später nur, daß er sich an diesem Tag entschieden habe, sein Engagement in der damaligen "Bürgerpartei für erneuerbare Nachhaltigkeit" (BEN) zu verstärken. Ein Jahr danach war er als Führer der Koalitionspartei Vizebürgermeister und Senator für Familienfragen, Senioren und Tiere.

Im Folgenden stimmen die Berichte über den Ablauf der Ereignisse jedoch überein: Wenige Minuten, nachdem er bei dem Hydranten stehengeblieben war, wurde Wolfgang E. von einer Menschenmenge umringt. Kinder umklammerten seine Beine, Frauen, die sich in der Mehrzahl befanden, drängten sich an ihn heran, einige mutige berührten sein Hemd oder fuhren ihm durch sein ohnehin wirres Haar, um es noch struweliger zu machen.

Nach einer halben Stunde unterbrach sogar der Vorstand einer nahegelegenen Privatbank seine Sitzung und kam auf die Straße herunter. Mehrere der Herren applaudierten, einer von ihnen löste seine silbergraue Krawatte und überreichte sie E..

Dann wurde er, immer noch in der Menge eingeschlossen, unter "Wolf - gang - E.!"-Rufen über die Straße und in das neu eröffnete Bräunungsstudio geführt. Lange blieben die Menschen davor stehen, bevor sie sich bis auf einen harten Kern von Anhängerinnen und Anhängern zerstreuten, um wieder ihren Beschäftigungen nachzugehen.

Einige Tage später fand der heute als historisch bezeichnete Parteitag der BEN statt, auf dem sie sich in "Bürger für nachhaltige Erneuerung!" (BNE!) umbenannte und Wolfgang E. zum Vorsitzenden gewählt wurde. Seitdem informiert die Presse regelmäßig über ihn, so daß unser Bericht hier enden kann.


 

(von Rupprecht Mayer)