Leseprobe aus
"Die zwei Leben des Sebastian -
Diametrale Erzählungen"
von Jürgen Heimlich
Ein Leben wird autobiografisch und biografisch beleuchtet. Was sich selbstreflexiv wie eine Entwicklungserzählung liest, bekommt durch die Darstellung von Außen den Charakter einer Persönlichkeitsstudie, die durch zwangsneurotische Merkmale des Protagonisten gekennzeichnet ist. Zwei Geschichten stellen ein Leben dar, und ergänzen sich. Die Komplexität des Menschen mag durch diese beiden Lebensbetrachtungsmöglichkeiten des fantasiebegabten, nonkonformistischen, sinnsuchenden und verschrobenen Sebastian verdeutlicht sein.
Der vergessene Turnbeutel
Die Spaziergänge mit seinen Großeltern und Eltern in der Prater Hauptallee gehören
zu den schönsten Momenten, die Sebastian als Kind verbringt. Er geht stets mit
Großvater und Vater voraus, während Großmutter und Mutter einige Meter
dahinter voranschreiten. Die Familienzusammenkünfte finden jeweils Sonntags
statt.
Es ist ein Ritual, das der Bub hoch schätzt. Er hat die Angewohnheit, seine
Schritte zu zählen; ausgehend von einem Baum in der Nähe des Riesenrades bis
zum Lusthaus. Das ist der Grund dafür, warum er sich nur ungern mit Großvater
und Vater unterhält. Er bekommt meist nur am Rande seiner Schrittzählungen
mit, was die beiden Männer zu erzählen haben.
Im Kopf schwirren ihm ständig Gedanken herum, die er nicht zu zähmen in der
Lage ist. Er hat ständig Angst, etwas zu verlieren oder mit Menschen in
Konflikt zu geraten, die er nicht mag.
"Alles o.k, Basti?"
"Hallo, Basti. Träumst du schon wieder?"
Es dauert eine halbe Minute, ehe Sebastian reagiert. Sein Vater bestellt sich
wie üblich ein Bier; ebenso sein Großvater. Mutter und Großmutter gönnen
sich an diesem mittelprächtigen Sommertag zwei Spritzer. Der Namen nahezu
negierende Zwangsneurotiker im Entwicklungsstadium leert sein Glas Traubi-Soda
mit nur wenigen Schlücken.
Am Tisch sitzt Sebastian fast völlig versteinert. Er hat diesmal
dreitausenddreihundertdreiunddreißig Schritte gezählt. Das sind um
vierundvierzig mehr als beim letzten Mal. Er trägt diese Summe später in ein
kleines Heft ein, wo ungewöhnliche "Rekorde" verewigt werden. Im
letzten Monat etwa wurde er gleich zwölf Mal von ziemlichen Rabauken verprügelt,
wobei er allerdings keine bleibenden Schäden davontrug. Vier Mal schlug er zurück,
und einmal hatte einer der grausamen Knaben den Verlust eines Schneidezahns zu
beklagen. Diese Ruhmestat bekam natürlich einen Ehrenplatz in der Liste der
Rekorde.
Als er einmal viel zu spät in Richtung Schule aufbrach, schaffte er es im
Laufschritt, in nur drei Minuten und zwölf Sekunden das Klassenzimmer zu
betreten, und wie üblich mit dem Klingeln der Schulglocke seinen Platz
einzunehmen. Ein fast unschlagbarer Rekord.
"Der Turnbeutel ist immer noch verschwunden", sagt Sebastian für die
restliche Familie überraschend.
"Ich verstehe nicht, wie ich ihn in der Straßenbahn vergessen konnte. Ich
pass' doch immer so genau auf."
"Das kann doch jedem mal passieren", sagt seine Mama. "Ist ganz
normal, glaub' mir."
Dennoch kann er es nach wie vor nicht fassen, eine derartige Aktion gesetzt zu
haben. Er hat den Turnbeutel beim Verlassen des Turnsaals einfach nicht
mitgenommen. So was konnte nur Idioten passieren, und jetzt war er selbst ein
Idiot! Dabei kontrolliert er jeden Abend mehrmals, ob die Turnsachen komplett im
Beutel sind, wenn am nächsten Tag eine Turnstunde angesetzt ist. Dieses Missgeschick
hätte nicht passieren dürfen.
Sebastian wird zum Dosenschießen von seiner Oma eingeladen. Er gewinnt einen
ziemlich großen Stoffaffen, der schnell zu seinem erklärten Liebling wird.
Dieser Affe soll nunmehr darauf aufpassen, dass seinen Schulsachen nichts
passiert. Der Bub ist jetzt zehn Jahre alt und kurz vor dem Sprung ins
Gymnasium.
"Ich habe eine Riesenüberraschung für dich", sagt eines Tages sein
Vater, und streckt seinem Sohn den vermissten Turnbeutel vor die Nase.
"Das ist wirklich eine Überraschung", sagt Sebastian, der das Wort
"Papa" als Anrede nur ungern hinzufügt.
"Der Schulwart hat ihn in einem Mistkübel gefunden. Es ist noch alles
drin, absolut vollzählig."
"Wenn der in einem Mistkübel war, kann ich ihn nicht mehr verwenden."
"Ach was, Junge! Mama wird ihn waschen, und damit hat sich die Sache."
"Da sind gefährliche Bakterien drauf. Und die Turnsachen will ich nicht
mehr anziehen."
"Blödsinn, Basti! Warum sollten wir dir einen neuen Turnbeutel, und neue
Turnsachen kaufen, wo doch jetzt der alte wieder aufgetaucht ist? Ist doch
super, dass der Schulwart ihn gefunden hat!"
Sebastian spricht ganz leise.
"Ich kann die Sachen nicht mehr anziehen. Das geht nicht."
Seine Eltern wollen keine neuen Turnsachen kaufen. Nur wenige Tage später
verliert er den Turnbeutel endgültig - und absichtlich. Dafür wird er nicht
zur Rechenschaft gezogen. (...)
Jürgen Heimlich: "Die zwei Leben des Sebastian - Diametrale Erzählungen"
Engelsdorfer Verlag, 2006. 124 Seiten.
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