November
Nebelung

Autorengeburtstage Texte zum November
Bauernregeln Gartentipps

Autorengeburtstage:
Ilse Aichinger (1.11.1921) Leo Perutz (2.11.1884)
Odysseas Elytis (2.11.1911) Hanns Heinz Ewers (3.11.1871)
Alfred Henschke (= Klabund) (4.11.1890) Hans Sachs (5.11.1494)
Robert Musil (6.11.1880) Albert Camus (7.11.1913)
Erika Mann (9.11.1905) Imre Kertész (9.11.1929)
Anne Sexton (9.11.1928) Friedrich Schiller (10.11.1759)
Fjodor Michailowitsch Dostojewskij (11.11.1821) Hans Magnus Enzensberger (11.11.1929)
Oskar Panizza (12.11.1853) Peter Härtling (13.11.1933)
Astrid Anna Emilia Ericsson (= Astrid Lindgren) (14.11.1907) Kaspar Lavater (15.11.1741)
Gerhart Hauptmann (15.11.1862) José Saramago (16.11.1922)
Joost Zwagerman (18.11.1963) Anna Seghers (19.11.1900)
Selma Lagerlöf (20.11.1858) Nadine Gordimer (20.11.1923)
François Marie Arouet (= Voltaire) (21.11.1694) André Gide (22.11.1869)
Paul Celan (23.11.1920) Carlo Lorenzini (= Carlo Collodi) (24.11.1826)
Frances Hodgson Burnett (24.11.1849) Connie Palmen (25.11.1955)
Eugène Ionesco (26.11.1912) Carl Jonas Love Almqvist (28.11.1793)
Stefan Zweig (28.11.1881) Wilhelm Hauff (29.11.1802)
Clive St. Lewis (29.11.1898) Jonathan Swift (30.11.1667)
Samuel Langhorne Clemens (= Mark Twain) (30.11.1835)  

Unter dunklen, treibenden Novemberwolken
verdämmert die Haide.

Gebückt,
am Wegrand,
sitzst du und starrst
auf deine welken Hände.

Lebst du noch?

Gemartert,
im Dornenstrauch,
zittert ein letztes Blättchen!

(von Arno Holz)


Novembersonne  

In den ächzenden Gewinden
Hat die Kelter sich gedreht,
Unter meinen alten Linden
Liegt das Laub hoch aufgeweht.

Dieser Erde Werke rasten,
Schon beginnt die Winterruh -
Sonne, noch mit unverblassten,
Goldnen Strahlen wanderst du!

Ehe sich das Jahr entlaubte,
Gingen, traun, sie müssig nie,
Nun an deinem lichten Haupte
Flammen unbeschäftigt sie.

Erst ein Ackerknecht, ein Schnitter,
Und ein Traubenkoch zuletzt
Bist du nun der freie Ritter,
Der sich auf der Fahrt ergetzt.

Und die Schüler, zu den Bänken
Kehrend, grüssen jubelvoll,
Hingelagert vor den Schenken,
Dich als Musengott Apoll.  

(von Conrad Ferdinand Meyer)


Abendland
1. Fassung (a)

Verfallene Weiler versanken
Im braunen November,
Die dunklen Pfade der Dörfler
Unter verkrüppelten
Apfelbäumchen, die Klage
Der Frauen im silbernen Flor.

Hinstirbt der Väter Geschlecht.
Es ist von Seufzern
Erfüllt der Abendwind
Dem Geist der Wälder.
Stille führet der Steg
Zu wolkigen Rosen
Ein frommes Wild am Hügel
Und es tönen
Die blauen Quellen im Dunkel
Daß ein Sanftes
Ein Kind geboren werde.

Leise verließ am Kreuzweg
Der Schatten den Fremdling
Und steinern erblinden
Dem die schauenden Augen,
Daß von der Lippe
Süßer fließe das Lied.
Denn es ist die Nacht
Die Wohnung des Liebenden,
Ist sprachlos das blaue Antlitz
Über ein Totes
Die Schläfe aufgetan;
Kristallner Anblick.
Dem folgt auf dunklen Pfaden
An Mauern hin
Ein Abgestorbenes nach.  

(von Georg Trakl)


Die Sonette auf Irene
IV

Es war November. Draußen stob der Föhn.
Das Lob der Heimat schien dich zu beglücken.
Wir mußten näher aneinanderrücken,
Um Donau, Inn und Oberhaus zu sehn.

Und unsre Wangen streifen sich und wehn.
Blut klopft an Blut. Wir sehn in unsren Blicken
Erfüllung glänzen, lächeln, jubeln, nicken.
Und Lippe sank auf Lippe engelschön.

Nicht suchte Hand nach Hand. Es klang kein Wort.
Die Uhr im Zimmer tickte unverdrossen.
Und unsre Herzen schlugen fort und fort

Wie Wellen, die ins große Meer geflossen.
Du standest auf. Das Buch lag noch am Ort.
Leis hast du hinter dir die Tür geschlossen.

(von Klabund)


9.11.1949
Ich fing an, die zum Schreiben nötige Zeit zu vertun:
1. durch überflüssiges Herumlungern in der Stadt,
2. durch "Unlust" an der Arbeit.
Ich muss vor allem begreifen:
a) dass man sich mit Schreiben nicht befassen darf, sondern sich ihm widmen muss (sonst bleibt man Dilettant),
b) dass man dafür nichts "opfern" muss, denn Schreiben ist das einzig mögliche Glück.
Kurz gesagt, Disziplin ist nötig. Die vorgesehene Arbeit am selben Tag erledigen. Jeden Tag zwei Stunden lernen, drei Stunden schreiben - unbedingt.

12.11.1949
Heute Abend das 7. Kapitel beendet. Welche Ruhe das Schaffen bereitet! Als Rajko mich heute angriff, ich sei ein "Blatt im Wind", blieb ich völlig ruhig. Denn ich habe etwas, was mir niemand nehmen kann - mein Werk. Es ist ständig bei mir und schützt mich vor Unbill und Schwäche.

(Aus "Reise in mein vergessenes Ich. Tagebuch 1942-1951" 
von Aleksandar Tišma. Aus dem Serbischen von Barbara Antkowiak.)
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(...) War das, was ich über Uadai in Bornu erkunden konnte, schon sehr dürftig und ungenügend, so blieben meine Bemühungen, über die weiter nach Süden gelegenen Länder mir irgendwelche Kunde zu verschaffen, gänzlich erfolglos. Man wußte hier absolut nichts von den Völkerstämmen, die jenseits Bagirmi wohnen; es scheint demnach zu keiner Zeit ein Verkehr mit dem Süden bestanden zu haben. Unterdessen beschäftigte ich mich, soweit es meine tief gesunkenen Kräfte zuließen, mit dem Studium der afrikanischen Sprachen; ich suchte meine Kenntnis des Kanuri und Teda zu vervollkommnen und legte mir von der Musgu-, der Budduma- und der Uandala-Sprache Vokabularien an. 

Mitte November besserte sich mein Gesundheitszustand sowie der meiner Leute. Fieber und Durchfälle hörten auf, wir waren über die schädlichste Jahreszeit glücklich mit dem Leben hinweggekommen. Bei der Kostspieligkeit des Lebens in Kuka hatten die zweihundert Taler, die ich mir geliehen, nicht lange vorgehalten, meine baren Mittel gingen wieder zur Neige, und ich mußte allen Ernstes an die Weiterreise denken. In Gebieten, die außerhalb des Bereichs der arabischen und berberischen Kaufleute liegen, wo infolge dessen kein Geldumlauf stattfindet, konnte ich hoffen, gegen meine Waren, gegen Glasperlen und dergleichen alles zum Unterhalt Nötige einzutauschen; für die Ausrüstung an Lasttieren und sonstigen Reisebedarf aber rechnete ich auf die Freigebigkeit des Sultans. (...)

(Aus "Quer durch Afrika. Die Erstdurchquerung der Sahara 
vom Mittelmeer zum Golf von Guinea 1865 - 1867" von Gerhard Rohlfs)
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Den Himmel über Meran kenne ich nicht. Obwohl ich unter ihm geboren bin an einem Novembermorgen. Obwohl dort meine Eltern begraben sind (unter einem stetig sich verändernden Himmel).

Ich bin von dort weggeführt worden an der Hand meines Vaters oder meiner Mutter oder eines Geschwisters, war also nicht alleine am Abschiebebahnhof Meran-Untermais, vierjährig, ohne genug Zeit gehabt zu haben, den Typus Wind unserer Gegend - Westwind oder Südwind - kennenzulernen. Es war für mich zu früh, die Palmwedel auf der Kurpromenade zu bemerken, vielleicht aber waren sie mir so selbstverständlich gegenwärtig wie der Schnee auf den Bergen ringsum oder im Sommer die Weinpergeln auf den Hügeln. Für mich war der Meraner Himmel das Gesicht meiner Mutter, das sich über mich gebeugt hat, und dieser Himmel hat sich fünfmal teilen müssen, wir waren eine kinderreiche Familie.

Und auch dieses verdanke ich Meran (wenn nicht noch anderes mehr): die Dufterinnerung, ja ich erinnere mich an den Bodengeruch unserer Parterrewohnung, an die Nähe, die sich ergab von der Matratze aus, die platt auf dem Erdboden gebreitet lag, und der Übersicht, die unsere Katze wohl noch besser hatte als ich - die Muina schlief bei mir und ich roch nicht nur ihr warmes Fell, ich roch die Küche, auch die Angst im Haus vor dem Auswandern, gewiß roch ich nicht den Himmel über Meran. Eher schon die Schuhcreme auf meines älteren Bruders Lackschuhen, auf die er so stolz war, die er immer bewundert hatte an den Füßen der noblen Kurgäste, und in denen er nun, d.h. damals im Jänner neunzehnvierzig, jämmerlich fror, während wir auf dem Bahnhof Meran-Untermais auf den Zug "Heim ins Reich" warteten. Wir waren die Kinder eines ehemaligen Hotelhausmeisters, also auch Hotelschuhputzers, und zuletzt (unter Mussolinis Regime) eines Langzeitarbeitslosen.

(Aus dem Erzählband "Der Himmel über Meran" von Joseph Zoderer)

Ein Sohn verbringt die Nächte am Kopfende des Bettes seines sterbenden Vaters, und er folgt mit Blicken immer mehr der Pflegerin Laura. Eine Mutter schleicht nachts mit der Taschenlampe durchs Haus und weckt ihre Familienmitglieder mit einem Lichtstrahl ins Gesicht. Ein Liebespaar verlebt das Ende seiner Liebe am Meer, und als einzige Gemeinsamkeit ist Ihnen die Nähe ihrer Füße geblieben. Joseph Zoderer erzählt von Menschen, die mit dem Leben nicht zurechtkommen - in einer klaren, nüchternen und zugleich ungemein starken Sprache. (Hanser)
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wer sich der Revolution verschreibt, pflügt das Meer

Dieser desillusionierte Satz steht in einem Brief vom 9. November 1830. Simón Bolívar richtete ihn an General Juan José Florés, den er zum Staatschef von Ecuador gemacht hatte.
Die Reiterstatuen Bolívars überall auf den Plätzen Lateinamerikas waren noch nicht aufgestellt, als dieser bei Santa Marta an der Karibikküste des heutigen Kolumbien ein letztes Mal vom Pferd stieg. Der Libertador ist ein alter Mann von siebenundvierzig Jahren mit schwindsüchtiger Lunge, der in einem Korbsessel, den ein aufmerksamer Sekretär in den Sand gestellt hat, allein am Meer sitzt. Mit Schreibzeug in der Hand beobachtet er den endlosen Wellengang und seine eigene, stürmische Vergangenheit.
Ein Monat bleibt ihm noch zu leben.

Woran mag der aufgezehrte General mit der fiebernassen Stirn jetzt denken, wenn er auf sein auseinanderfallendes Lebenswerk blickt, jener General mit den langen Koteletten und dem messerscharfen Gesicht namens Simón Bolívar, den ich in dem Augenblick, da sich die Fäden seines bewegten Lebens lösen, gerne heiter und zur Ruhe gekommen wüsste? Sieht er noch einmal mit einem Lächeln seine Kindheit in Caracas vor sich, den kleinen, blassen jungen Mann von damals, der mit sechzehn Jahren den Mut oder die wahnwitzige Dreistigkeit besaß, dem spanischen Vizekönig bei einem Empfang 1799 in Mexiko seine Bewunderung für die Französische Revolution zu verkünden?
Wieder einmal hat er, der dem spanischen Joch in endlosen, siegreichen Kämpfen die Hälfte Lateinamerikas entrissen hatte, der Staatschef der damaligen bolivarischen Republik von Venezuela, des damaligen Großkolumbien, sowie Perus und Boliviens geworden war, der immer wieder aus Verdrossenheit zurücktrat und seine Ämter dann von Neuem wieder einnahm, das Präsidentenamt der Republik in einer Kurzschlusshandlung aufgegeben.
Der General, den wir uns heute nicht mehr vorstellen können, ohne an die Romanfigur zu denken, die der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez aus ihm gemacht hat, wie wir uns auch die letzten Tage des Alkibiades oder Alexanders des Großen nicht vorstellen können, ohne uns an die Sätze Plutarchs zu erinnern, fährt von Bogotá kommend mit seiner Leibwache den Río Magdalena bis zur Küste hinunter. Es ist ein langsame Prozession von Schiffen, die still unter dem smaragdfarbenen Tunnel des Dschungels entlanggleiten und dabei den Teppich der Wasserpflanzen auseinanderreißen. Simón Bolívar liegt in einer Hängematte und wird von seinen Männern mit Segeln aus getrockneten Palmblättern vor der Sonne geschützt. Während er sich in seinem Fieberdelirium verliert, hört er dem Geschrei der unsichtbaren Affen im Urwald zu, beobachtet die großen Goldaugen der Krokodile dicht über den Wasserlinsen und atmet die klebrigen Ausdünstungen des Flusses ein. Was wäre wohl gewesen, wenn die junge Frau mit dem langen schwarzen Haar, die er 1802 in Madrid geheiratet hatte, wenn die schöne María Teresa Rodríguez del Toro überlebt hätte? Wenn sie nicht ein Jahr später, kurz nach ihrer Ankunft in Amerika, in Caracas gestorben wäre? Wo wären sie beide heute?
Und wäre er auch gleich wieder nach Europa aufgebrochen, um 1804 an der Krönung Napoleon Bonapartes teilzunehmen, wenn ihr Tod dem einundzwanzigjährigen Witwer nicht das Herz gebrochen hätte? Hätte er auch dann, geblendet von der Prachtentfaltung der Timokratie, gleich nach seiner Rückkehr nach Amerika zu den Waffen gegriffen? Hätte er sich in das Schlachtengetümmel geworfen, wenn ihn jede Nacht das duftende, lange schwarze Haar der schönen María Teresa überflutet hätte?

Seit dem Tod seiner Frau ist Simón Bolívar auf der Flucht, er hat keine Heimat mehr auf Erden. Seit zwanzig Jahren vertröstet der ruhmreiche Libertador mit dem gezückten Säbel unaufhörlich eine Geliebte nach der anderen mit dem scheinheiligen Versprechen auf eine baldige Rückkehr. Und die vielen Bibliotheken, die er in jeder Stadt gegründet hat, in der er lebte, in Madrid und Caracas, Paris, Bogotá und Lima, hat er immer wieder seinen Freunden anvertraut.
Er weiß, dass irgendwo in dem einen oder anderen der zahlreichen Koffer und Metallkisten, die ihn bei seiner letzten Reise auf dem Magdalenenstrom begleiten, zwischen seltenen Stoffen und Silberbesteck, das sein Monogramm trägt, die beiden einzigen Bücher liegen, die er überallhin mitgenommen hat, in seine Paläste ebenso wie in die gefährlichen Feldlager in der Wildnis: Vom Gesellschaftsvertrag von Jean-Jacques Rousseau und Die Kriegskunst von Raimund Montecuccoli. Beide Bücher in französischer Sprache hatten vor ihm Napoleon Bonaparte gehört und waren ihm nach dem Tod des Kaisers auf Sankt Helena von seinem englischen Freund, General Wilson, geschenkt worden.
Westlich der Mündung des Magdalenenstroms, in Santa Marta, wartet Simón Bolívar auf ein Schiff, das ihn, sollte es eintreffen, ein letztes Mal nach Europa bringen könnte. Oder wartet er darauf, dass man noch einmal den Kotau vor ihm macht, dass man ihn bittet, noch einmal die Macht zu übernehmen? Er schreibt viel, schlägt seine letzte briefliche Schlacht gegen das Auseinanderfallen seiner großen Republik, aber er weiß, dass er im Sterben liegt, dass das schöne Gebäude, das schon jetzt erste Risse zeigt, nach seinem Tod in Stücke fliegen wird, und dass die Diadochenkämpfe unter seinen Männern in Venezuela bereits ausgebrochen sind.
Nach vierzehn Jahren ununterbrochener Kriegführung müsste er eigentlich wieder in den Sattel steigen, doch sein bestes Pferd, den legendären Palomo Blanco, hat er in Bolivien zurückgelassen. Er müsste noch einmal von der Karibikküste bis zur chilenischen Wüste durch das Reich ziehen, die Unbotmäßigen und Sezessionisten niederwerfen, die Umstürzler erschießen lassen, alles noch einmal von vorne beginnen, aber er hat nicht mehr die Kraft dazu, er spuckt Blut auf seine schöne himmelblaue Uniform mit Knöpfen aus reinem Gold.
Sterbend sitzt der Schwindsüchtige, der agnostizistische Libertador, der nicht einmal auf den Beistand der Götter hoffen kann, in seinem Korbsessel am Strand. Jetzt ist die Zeit, Bilanz zu ziehen und zu bereuen. Ob er an die Auseinandersetzungen um die Regentschaft von Santa Marta denkt, um die im 16. Jahrhundert an dieser Stelle Bartolomé de Las Casas und Gonzalo Fernández de Oviedo gegeneinander kämpften? Kämpfe, die wie viele andere in Vergessenheit geraten, von den Meeresfluten geschluckt worden sind. Er betrachtet die weißen Muscheln im Sand, das türkisfarbene Wasser der Karibik und die Wellen, die sich am Korallenriff brechen. Wer sich der Revolution verschreibt, pflügt das Meer. Er denkt an die große Insel Kuba hinter dem Horizont, die er Spanien entreißen wollte. Es unterlassen zu haben, bedauert er auf militärischem Gebiet am meisten.
Aber er vermisst auch die vielen blühenden Frauen mit der Süßholzhaut, die in den leuchtenden Farben der kreolischen Mode gekleidet sind und die ihm als jungem Revolutionär seine Witwenschaft im Exil auf Curaçao versüßt haben. Und außerdem trauert er seinem Freund Manuel Piar nach, dem jungen Mulatten aus Curaçao, der die Insel mit ihm verlassen hatte und an seiner Seite im Laufe der Revolutionskriege zu großem Ruhm gekommen war, bis der zum General aufgestiegene Piar zu ehrgeizig wurde, und Simón Bolívar ihn vor dreizehn Jahren in Angostura tief betrübt erschießen ließ. Er erinnert sich, dass er es abgelehnt hatte, an der Exekution teilzunehmen, und der Truppe am nächsten Tag erklärte: Gestern war ein schmerzlicher Tag für mich.
Vielleicht aus Koketterie malt sich Simón Bolívar in seinen letzten Briefen aus, sein Name würde nirgendwo in die Geschichte eingehen. Und doch stehen auf jeder Plaza Mayor Reiterstatuen von ihm, hat man Prachtstraßen, einen Flughafen in Caracas, einen in Santa Marta, eine Metrostation in Paris, eine kubanische Zigarre, eine Währung und ein Land, in dem Che Guevara sterben sollte, nach ihm benannt.
Und für alle, deren Lebensstationen ich in meinen Notizbüchern festhalte, von Francisco Morazán bis William Walker, war Simón Bolívar ein unübertreffliches Vorbild, ob sie es zugaben oder bestritten. El Libertador stirbt am 17. Dezember in San Pedro Alejandrino.
Wir schreiben das Jahr 1830.
In Mittelamerika steht zu dieser Zeit General Morazán an der Spitze der zentralamerikanischen Föderation, die Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua und Costa Rica in einem Staat vereinigt. Wie Simón Bolívar verausgabt er sich unablässig in siegreichen Schlachten, bevor er das prächtige Staatengebilde einstürzen sieht und eines Morgens nach Lima fliehen muss.
Sechs Jahr zuvor war Lord Byron im Kreise griechischer Aufständischer in Messolongi gestorben.
William Walker ist zu diesem Zeitpunkt ein schwächlicher Knabe von sechs Jahren in Nashville, Tennessee. Er hat noch nichts von Lord Byron gelesen. Der Name Simón Bolívar ist ihm noch unbekannt.

(Aus dem Roman "Pura Vida. Leben und Sterben des William Walker" von Patrick Deville.
Aus dem Französischen von Holger Fock.)

Die Romanbiografie des Abenteurers William Walker, des "Don Quichotte Mittelamerikas", und zugleich ein vielschichtiges Panorama revolutionärer Mythologien und Utopien.
Sensationsbericht, Reisetagebuch, Abenteurerbiografie und wissenschaftliches Dokument - all das vereint Patrick Deville in seinem von der französischen Kritik bejubelten Roman "Pura Vida": Im Zentrum steht das außergewöhnliche und faszinierende Leben des Abenteurers und barbarischen "Don Quichotte Mittelamerikas" William Walker, der in den 1850er Jahren im Dschungel Mittelamerikas die Republik Sonora ausruft, sich später zum Präsidenten von Nicaragua ernennt und schließlich von der honduranischen Regierung exekutiert wird. Mythenumwoben diente Walker als Vorlage zahlreicher Interpretationen, u.a. für Gillo Pontecorvos preisgekrönten Film "Queimada" (1969, mit Marlon Brando als William Walker und Filmmusik von Ennio Morricone).
"Pura Vida" aber ist mehr als bloß eine Romanbiografie William Walkers, denn Patrick Deville verwebt dessen Geschichte mit jener der sandinistischen Revolutionäre: Vergangenheit und Gegenwart überlagern sich zu einem vielschichtigen Panorama revolutionärer Mythologien und Utopien. (btb)
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14. November 1917
Also, nach meiner Flucht aus der Moskauer Heilanstalt des Doktors ... (Name sorgfältig gestrichen) bin ich wieder zu Hause. Wie ein Schleier verhüllt der strömende Regen die Welt. Mag er. Ich brauche sie nicht, ebensowenig wie mich jemand auf der Welt braucht. Die Schießerei und den Umsturz habe ich in der Heilanstalt miterlebt. Aber der Gedanke, die Kur hinzuschmeißen, war schon vor den Moskauer Straßenkämpfen heimlich in mir gereift. Ich bin dem Morphium dankbar, dass es mich mutig gemacht hat. Keine Schießerei jagt mir Angst ein. Was kann überhaupt einen Menschen ängstigen, der nur an eines denkt - an die wundersamen göttlichen Kristalle? Als die Pflegerin, ganz kopfscheu von dem Kanonendonner ... (Hier fehlt eine Seite) ... diese Seite herausgerissen, damit niemand je die schmachvolle Schilderung liest, wie ein Mensch mit Diplom diebisch und feige flieht und seinen eigenen Anzug stiehlt.
Aber was ist schon der Anzug! Ich habe ein Krankenhaushemd mitgenommen. Es war mir egal. Am nächsten Tag, nachdem ich mir eine Injektion gemacht hatte, wurde ich wieder rege und kehrte zu Doktor N. zurück.
Er empfing mich mitleidig, aber durch das Mitleid schimmerte Verachtung. Das hätte er sich sparen können. Schließlich ist er Psychiater und sollte wissen, dass ich nicht immer Herr meiner selbst bin. Ich bin krank. Wozu mich verachten? Ich gab das Krankenhaushemd zurück.
"Danke", sagte er und fügte hinzu: "Was gedenken Sie jetzt zu tun?"
Ich sagte forsch, denn ich war im Zustand der Euphorie: "Ich habe beschlossen, in meine Einöde zurück zu kehren, zumal mein Urlaub zu Ende ist. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe, ich fühle mich bedeutend besser. Ich werde die Kur zu Hause fortsetzen."
Er antwortete: "Sie fühlen sich nicht im Geringsten besser. Lächerlich, dass Sie mir so etwas sagen. Dabei genügt ein Blick auf Ihre Pupillen. Wem erzählen Sie so etwas?" (...)

(Aus der Erzählung "Morphium" - enthalten in "Die rote Krone. Autobiografische Erzählungen und Tagebücher"
von Michail Bulgakow. Aus dem Russischen von Thomas Reschke)

In der autobiografischen Prosa beschreibt Michail Bulgakow seine Erfahrungen, Hoffnungen, Illusionen und Enttäuschungen zwischen 1916 und 1934. (Volk & Welt)
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[Hamburg,] 29. XI. 1895

Meine liebste Anna!
Sei mir gegrüßt am heutigen Morgen! Wie fühle ich mich beglückt, daß ich Dir es sagen darf, was dieser Tag für mich bedeutet.
Er ist in ureigenstem Sinne zu meinem Geburtstag geworden! - So, siehst Du mein Lieb?, jetzt habe ich Dir doch meinen Geburtstag verrathen.
Vor einigen Tagen hast Du mir angedeutet, daß die Zahl 23 in Deinem Leben bedeutungsvoll ist. - Hast Du es geahnt, was dieser 23. Geburtstag für Dich bedeuten wird?
In wenigen Stunden werde ich Dir in die lieben Augen blicken. Ich kann es kaum erwarten. Wird einmal der Tag kommen, wo ich es immer thun darf?
Komm nur recht bald! - Ich werde in der heutigen Probe gar nicht abklopfen. Ich fürchte überhaupt, daß ich jetzt ein sehr "ungewissenhafter" Kapellmeister sein werde. - Seit ich ein so seliges Wissen habe, habe ich mein Gewissen verloren.
Sag mir heute schnell in einem unbewachten Augenblick, ob Du mich lieb hast. Meine Geliebte, Du mußt es mir noch oft sagen, bevor ich es zu voller Sicherheit weiß, Du "Feind", vor dem ich so schnell capitulirt habe - und mich auf Gnade und Ungnade ergeben! Welches Glück für mich, daß es auf Gnade war! Ja? Ja? Sag mir’s! Meine Liebe! Auf Wiedersehen!
Dein
Gustav
29. Nov[ember] 1895

Quelle: Autograph, ÖTM, AM 29086 BaM. - Datierung: von fremder Hand am Anfang des Briefes: 29. XI. 1895; von Mahlers eigener Hand nur die Datierung am Ende des Briefes.

(Aus "Gustav Mahler. 'Mein lieber Trotzkopf, meine süße Mohnblume'"
Briefe an Anna von Mildenburg. 
    Herausgegeben und kommentiert von Franz Willnauer)

Hamburg im Frühherbst 1895: Die 23-jährige Sängerin Anna von Mildenburg debütiert am Stadttheater und wird über Nacht zum Star. Am Pult: ihr Mentor, der damals 35-jährige Gustav Mahler. Bisweilen mehrmals täglich lässt er ihr Botschaften zukommen. Von Anfang an geht es dabei um mehr als nur künstlerische Fragen. Die mehr als 200 Briefe, von denen bisher nur ein Dutzend bekannt waren, dokumentieren eine hochemotionale Liebesgeschichte und geben einen faszinierenden Einblick in das Musikleben des Fin de siècle. Ergänzt wird der von Franz Willnauer edierte Band durch die Korrespondenz zwischen Anna von Mildenburg und Alma Mahler sowie ein vollständiges Auftrittsverzeichnis der legendären Sängerin. (Zsolnay)
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Bauernregeln für den Monat November:
Schnee am Allerheiligentag (1. November)
selten lange liegen mag.  
Bringt Sankt Martin (11. November) Sonnenschein,
tritt ein kalter Winter ein.  
Sankt Elisabeth (19. November) zeigt an,
was der Winter für ein Mann.  
Wie St. Kathrein (25. November)
wird's auch an Neujahr sein.
Wenn es an Andreas (30. November) schneit,
der Schnee hundert Tage liegen bleibt.  
Wenn im November die Stern' stark leuchten,
lässt dies auf bald viel Kälte deuten.  
Hat der November einen weißen Bart,
dann wird der Winter lang und hart.  

Im Garten kehrt Ruhe ein ... (zumindest oberflächlich betrachtet):

Im November gibt es in unseren Breiten im Freien nichts auszusäen. Zumindest die Broccoli-Ernte ist weiterhin möglich.
Schnittlauchballen ausgraben, einmal ordentlich vom Frost erschüttern lassen, und dann zum Antreiben auf dem Fensterbrett eintopfen. Auf diese Weise hat man schon sehr bald ganz frischen, würzigen Schnittlauch zur Verfügung.
Obstgehölze und Beerensträucher können noch gepflanzt werden.
Rosen anhäufeln und nötigenfalls mit Fichtenreisig bedecken. Der Rückschnitt wird erst im Frühjahr durchgeführt.
Solange der Boden nicht gefroren ist, können Sie durchaus noch Stauden, Blumenzwiebeln, Sträucher, Rosen und Kletterpflanzen einsetzen.
Es ist nicht notwendig, im Garten für "Sauberkeit" (nach menschlichem Ermessen) zu sorgen. Samenstände sind vielen Tieren als Nahrungsquelle willkommen, liegenbleibende Pflanzenreste dienen als Überwinterungsquartiere für allerhand Kleingetier.


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