Blut
Universale Nahrungsquelle der Untoten, ob es von Tieren, Menschen oder,
wie in neuerer Zeit, aus Blutbanken stammt. Dem Blut als
lebensspendendem und lebenserhaltendem Saft werden seit jeher
übernatürliche und mystische Eigenschaften
zugeschrieben. Blut zu verlieren bedeutet einen Verlust an Lebenskraft;
Blut zu erhalten bedeutet Heilung und neues Leben. Die Idee, dass Blut
für Vampire
lebensnotwendig sei, beruht auf einem ganzen
Komplex von uralten Mythen, in denen der Tod, die Unsterblichkeit und
das menschliche Dasein reflektiert werden. Das Verlangen des Vampirs
nach Blut ist in der Literatur ein allgegenwärtiges Thema. In
Bram Stokers Dracula (1897) tritt der Graf
zuerst als Greis auf, wird aber im Verlauf der Geschichte dank dem Blut
der Lebenden zusehends jünger. Die Vampire der neueren
Literatur kommen anscheinend mit weniger Blut aus, und manche, meist
die schon sehr alten, zapfen Lebende nur noch an, um sich das
Vergnügen eines besonders delikaten Mahls zu gönnen;
ihr Geist ist im Lauf der Jahrhunderte dermaßen erstarkt,
dass sie keiner Nahrung mehr bedürfen.
Welche Funktion hat Blut in der Erhaltung der vampirischen Existenz?
Wie geht die Umwandlung von Blut in Energie vor sich? Wieviel Blut
benötigt ein Vampir, und wie lange? Welche Rolle spielt Blut
bei der Entstehung des Vampirs oder bei der Verwandlung in einen
solchen? Welcher Alchimie
verdanken Vampire ihre besonderen
Fähigkeiten? Wird Vampirismus durch eine Krankheit, ein Virus
oder gar ein teuflisches, außer Kontrolle geratenes
Experiment verursacht? Solche und andere Fragen, von Philosophen,
Psychologen, Medizinern und Vertretern der Grenzwissenschaften immer
wieder aufgeworfen, haben dem Vampir im Lauf seine Geschichte eine
reale Dimension verliehen, und die spirituellen, medizinischen,
physischen und metaphysischen Aspekte vampirischer Existenz haben zur
Imageverbesserung der Vampirologie beigetragen. Diese Aspekte setzen
die Untoten zur grundsätzlichen Frage nach dem Ursprung des
Lebens in Beziehung: Der Vampir erscheint als Bindeglied zwischen
Diesseits und Jenseits,
Leben und Tod, Tod und Unsterblichkeit.
Die Aura des Mystischen, die das Blut für die Lebenden
besitzt, hat seltsame gesellschaftliche Phänomene
hervorgebracht. Der Psychoanalytiker Ernest Jones stellt in einer
Studie über Träume und Albträume fest, dass
im menschlichen Unterbewusstsein das Blut, zusammen anderen
Körperflüssigkeiten wie Sperma und Speichel, eine
wichtige Rolle spielt. Es gab und gibt auch heute Menschen, die sich
psychische oder sexuelle Befriedigung verschaffen, indem sie Blut
trinken oder ihr Blut mit Gleichgesinnten
teilen. Obwohl zahlenmäßig unbedeutend, sind sie ein
lebendes Beispiel dafür, dass der Mythos
von der Macht des Blutes noch in
unserer von der Technik beherrschten Epoche präsent ist.
(Aus: "Das Buch der Vampire. Von Dracula, Untoten und anderen Fürsten der Finsternis. Ein Lexikon." von Matthew Bunson.)