Leseprobe aus "Robert Schumann. Glück
und Elend der Romantik"
von Peter Gülke
Gestundete Zeit
Unter den Großen war er der Ungeduldigste.
Entweder gelingt etwas sofort, oder es
gelingt nie - das war die Prämisse seiner
Arbeit, ausgewiesen durch kaum glaubliche, nur
Mozart
und Schubert
vergleichbare Geschwindigkeit und
Sicherheit im Vollbringen.
Schon die Einstiege dulden keinen Aufschub: Als wolle er
nicht wahrhaben, daß es noch anderes gibt als Musik, stürzt
er in sie hinein. Könnte man, wie einst in der barocken Ouvertüre,
verbindliche Anfangsrituale zum Maßstab nehmen,
müßten seine typischsten Anfänge unstatthaft erscheinen. Zeremonielles
Incipit, bewußten Übertritt von Nicht-Musik
in Musik, die Schwelle zwischen beidem mag er
nicht - und diese liegt bei Musik, welche, künstlich erzeugt, "keinen
Stoff hat, der abgerechnet werden müßte", ohnehin
höher als bei den anderen Künsten.
Entweder wirft Schumann sich wie besinnungslos hinein, oder
er ist von vornherein mittendrin, als habe er sich nie
woanders befunden. Manchmal freilich kommt er an traditionellen
Formalitäten nicht vorbei, komponiert indes, wo
und wie er nur kann, gegen den Schein des Üblichen. Dieses
ist ihm als unnötige, zwischen die Musik und den
Hörer geschobene Umständlichkeit verdächtig. Er liebt Einstiege,
bei denen wir nicht gleich wissen, woran wir sind - u. a. Ton- und
Taktart betreffend
-, so daß wir uns erst
zurechtfinden und intensiv bei der Sache sein müssen.
Doch auch, wenn die Musik in Gang gesetzt ist, meidet Schumann
die bei großen Formen unerläßliche Unterscheidung
hinleitender, exponierender, modulierender, drängender, verweilender,
thematisch wichtiger oder redundanter Passagen.
Auf der Suche nach rückhaltloser Identität mit seiner
Musik hadert er mit jenem methodischen Vorbedacht, dessen
die Funktionswechsel und Arbeitsteilungen in
der Maschinerie großer Formen bedürfen: Eine Introduktion kann
bei ihm nicht, wie überwiegend bei Beethoven,
nur
hinleitende, vorbereitende Musik sein. Gewiß ist Hinführung
als alleiniger Gegenstand von Musik kaum vorstellbar,
stets gibt es Festlegungen - eine Tonart, Gangart, irgendein
motivisches Minimum. Beethoven versucht in
solchen Passagen, diese klein zu halten, Schumann versucht es
nicht. In der d-Moll-Sinfonie op. 120 taucht die Musik
der Introduktion im zweiten und dritten Satz wieder auf,
als erlägen diese der fortwirkenden Suggestion des warmen,
dunkel verschatteten Klangstroms vom Beginn, als
dringe ein Singen nach oben, welches unterschwellig immer
fortgegangen war.
Ähnlich auch anderswo. Schumann kann nicht ausschließlich exponieren,
eine später abzuhandelnde These nur
hinstellen und nichts darüber hinaus, er kann nicht nur durchführen,
genau das zuvor Exponierte abhandeln und hierauf
fixiert bleiben. Er will immer und in jedem Augenblick das
Ganze, tut sich schwer mit der methodisch gezügelten Geduld,
die einen Gestaltungsimpuls hintan hält, während
der andere arbeitet; er hadert mit dem Nach- und Nebeneinander
der an den Zeitverlauf gebundenen musikalischen Ereignisse.
Das treibt in die innersten Zellen seiner Musik
eine pulsierende Unrast, in die langsamen Sätze die Sehnsucht,
von ihr loszukommen.
Die strukturelle Ungeduld entspringt dem Legitimationsbedürfnis dessen,
der sich dem Vergleich mit gerade noch als
Gegenwart erlebten klassischen Leistungen nicht entziehen
kann, ebenso wie dem Wissen, daß er nicht viel Zeit
haben wird. Erstmals anläßlich der familiären Katastrophen der
Jahre 1825/26, dem Selbstmord der Schwester Emilie
und dem rätselhaften Tod des Vaters, und danach, menschliche
Nähe auch auf riskanten Wegen suchend oder haltlos
trinkend erlebt sich Schumann als einen, der seiner selbst
nicht sicher ist, beobachtet genau und zensiert streng,
wie er sich entgleitet - bis hin zu Entmündigungen in
der Nervenheilanstalt. Als jederzeit verlierbar gewinnt alles
Gelungene, alles Erlebte Gewicht und Eindringlichkeit von
"Gelegenheiten, / Die nur in einen Lebenspunkt
zusammen-
/ Gedrängt, den schweren Früchteknoten bilden".
Daß es eine oder die letzte Musik sein könnte, an der er
jeweils komponiert, macht sie zum, gewiß je vorläufigen,
Testament. "Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! / Und
einen Herbst zu reifem Gesange mir" - nicht zufällig hat
Schumann Hölderlins Leiden teilnehmend verfolgt. "Einmal
/ Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht". (...)
Peter Gülke: "Robert Schumann. Glück
und Elend der Romantik"
Zsolnay, 2010. 272 Seiten.
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Robert Schumann ist eine der
großen
Gestalten der Romantik:
Genie von höchster Produktivität,
hingebungsvoller Ehemann, Vater von acht Kindern, manisch und
depressiv - und jung gestorben in
einer geschlossenen Anstalt. Peter Gülke widmet sich in dieser
Biografie dem
Pianisten und Komponisten von Klaviermusik und Kunstliedern, von
Symphonien und
Konzerten, dem Musikschriftsteller und Leser von Jean Paul und E.T.A.
Hoffmann.
Seinerseits ein leidenschaftlicher Musiker, erklärt er die schumannsche
Musik
und ihre Entstehungsbedingungen und setzt sich dabei kritisch
auseinander mit
manchem festgefügten Bild.
Peter Gülke wurde 1934 in Weimar geboren.