(...)
Abend für Abend spielte er so, und allmählich kamen ein paar Leute aus
den umliegenden Häusern zu ihrem Haus, um ihn spielen zu hören und auch
um nach der Kranken zu fragen. Anfangs standen sie rücksichtsvoll an der
Treppe, manche lehnten sich an das Geländer, andere an die Wände, sie
ließen aber in der Mitte stets einen Gang frei, falls jemand von der
Familie hinauf- oder hinuntergehen wollte. Doch da sie niemand von den
Treppen vertrieb, brachten sie nach und nach noch andere mit, und bald
kamen sie alle bis an die Tür der Kranken, einige traten sogar ins
Zimmer, lehnten sich an, wo sie einen freien Platz an der Wand fanden,
und standen still da - immer mit dem Bewußtsein, etwas Verbotenes zu
tun, eine Übertretung .... Zugegeben, es gab nichts Faszinierenderes,
nichts Sehnsüchtigeres und Ansteckenderes als das Gefühl, das diese
wunderbaren Musikstücke hervorriefen, die dieser schwarze Storch für die kleine Ioulia
spielte - nunmehr auch für sie alle spielte; denn bald stellte sich
heraus, daß die Anwesenheit der Leute, daß sie gekommen und da waren,
seine Finger anfeuerte, ihm schmeichelte, ihn über sich hinauswachsen
ließ .... Vorausgesetzt, sie machten keinen Lärm.
Es war wirklich seltsam: Gewöhnlich hielt er beim Spielen die Augen
geschlossen und schien sich zu vergeistigen, sich anderswo zu befinden,
allein mit seinen Fingern und jenen seltenen Melodien, sobald aber ein
Flüstern hinter ihm die Dimension eines Gesprächs annahm (sei es auch
ganz leise, fast tonlos), schnappte er ein, wurde ärgerlich, und dann
hörte alles auf - das Akkordeon und das Flüstern.
Sie wiederum taten es keineswegs in der Absicht, ihn zu stören, den
Abend zu verderben; doch allmählich kannten sie ihn nun (und er kannte
sie allmählich auch), so hielten sie es also für nicht ganz so
verwerflich, zwischendurch mal ihr ehrfurchtsvolles Schweigen zu
brechen, um etwas zu sagen: wie komisch und wie "gruselig" seine
schlaksig dünne Figur mit diesem "Kürbis" auf seinem fleischlosen
Rücken wirke; wieviel schöner die kleine Ioulia geworden sei (und allem
Irdischen entrückt), seit man sie nicht mehr auf den Straßen herumlaufen
sah; oder wie "verdreht" die Große sei, ihr ganzes Benehmen, was für
Zeichen sie machte und was für Worte sie ab und zu stammelte; oder auch
wie "hohlwangig und zugleich aufgedunsen" das Gesicht von Fewronia seit
dem Sommer geworden sei. Aus Stein wären sie gewesen, nicht aus Fleisch
und Blut wie Menschen (vor allem wie Frauen), hätten sie das alles so
belassen, ohne sich darüber zu äußern, ohne sich darüber flüsternd auszulassen.
Sie verachteten nicht im geringsten die Musik und sein Talent, sie
wollten aber auch nicht so lange warten, bis sie wieder draußen waren,
um sich nach Lust und Laune darüber zu unterhalten.
Er aber nahm es krumm (ein krummes Holz er selbst ...), wurde ärgerlich,
und, seine rasenden Finger vom Akkordeon hebend oder sie mit ganzer
Kraft auf die Tasten pressend (es werde Chaos!), schrie er über seine
Schulter:
"SILAAANGS!"
Silaaangs ...
So. Hätte er es ihnen auf chinesisch gesagt, sie hätten verstanden,
daß das Halt`s Maul bedeutete.
(...)
(aus "Und beim Licht des Wolfes kehren sie wieder" von Siranna Sateli)