Im Sommer will es die Mode oder
die Sorge um die Gesundheit, die auch eine Mode ist daß man sich auf
Reisen begibt. Ist man ein wohlhabender Bourgeois mit allem Respekt und Gehorsam
gegenüber den mondänen Gepflogenheiten, so hat man sich zu einer bestimmten Zeit
des Jahres von seinen Geschäften, seinen Freuden, seinen geschätzten
Bequemlichkeiten und geliebten Vertrautheiten zu trennen und sich, ohne so recht
zu wissen, weshalb, ins große Ganze zu stürzen. Der diskreten Sprache der
Zeitungen und der erlauchten Herrschaften zufolge, die sie lesen, nennt man dies
eine Ortsveränderung ein Begriff, der zwar weniger poetisch als Reise ist,
doch um wie vieles treffender!... Das Herz ist zwar nicht immer geneigt, seinen
Ort zu verändern, man kann sogar behaupten, dazu ist es nie geneigt, aber dieses
Opfer ist man seinen Freunden, seinen Feinden, seinen Lieferanten, seinem
Personal, kurzum, all jenen schuldig, gegenüber denen man einen glänzenden Rang
zu wahren hat, denn das Reisen läßt auf Geld und das Geld auf sämtliche
gesellschaftlichen Vorrechte schließen.
Also reise ich, was mich jedoch
unendlich langweilt, und ich reise in die Pyrenäen, was die bereits generelle
Langeweile, die mir das Reisen bereitet, in eine ganz besondere Tortur
verwandelt. Was ich den Pyrenäen am meisten vorwerfe, ist, daß sie ein Gebirge
sind... Denn so sehr ich ihre gewaltige und furchterregende Poesie wie jeder
andere empfinde, sind Gebirge für mich der Inbegriff all dessen, was das
Universum an unheilbarer Trübsal, an rabenschwarzer Entmutigung, an
unerträglicher und tödlicher Atmosphäre überhaupt zu bieten hat... Ich bewundere
ihre grandiosen Formen und ihr wechselndes Licht... Aber was mich schaudern
macht, ist die Seele des Ganzen... Mir scheint, als müßten die Gefilde des Todes
Gebirge und Abergebirge wie die sein, die ich, während ich dies schreibe, direkt
vor meinen Augen habe. Vielleicht lieben so viele Menschen sie gerade aus diesem
Grund.
Die Besonderheit der Stadt, in der ich gerade weile und deren "himmlisch idyllische
Schönheit" der exzellente, so knochentrocken deutsche Baedeker mit ausschweifenden
Lyrismen besingt, besteht darin, daß sie keine Stadt ist. Im allgemeinen besteht
eine Stadt aus Straßen, die Straßen aus Häusern, die Häuser aus Bewohnern. In
X dagegen... da gibt es weder Straßen noch Häuser noch einheimische Bewohner,
da gibt es nur Hotels... fünfundsiebzig Hotels, riesige, an Kasernen oder
Irrenanstalten
gemahnende Gebilde, die sich endlos aneinanderreihen auf dem Grunde einer nebelverhangenen
und finsteren Schlucht, in der ein kleiner Sturzbach unablässig vor sich hin
hüstelt und röchelt wie ein kleiner bronchitischer Greis. Hier und da, im Parterre
der Hotels eingerichtet, einige Schaufensterauslagen, Läden mit Büchern, mit
illustrierten Postkarten, mit photographischen Ansichten von Wasserfällen, Bergen
und Seen, Sortimenten von Spazierstöcken und allem, was die Touristen benötigen.
Dann, an die Hänge verstreut, einige Villen... und, auf dem Grunde eines tiefen
Lochs, das eigentliche Thermalbad, das bereits auf die Römer zurückgeht... Denn
alles stammt... oh, ja!...
von den Römern!... Direkt gegenüber: das hohe, düstere
Gebirge; hinter einem: das düstere, hohe Gebirge... rechter Hand: das Gebirge,
zu dessen Füßen ein See ruht; linker Hand: noch immer das Gebirge und noch
ein
weiterer See... Und kein Himmel... niemals Himmel über einem! Dicke Wolken,
die ihre schweren, undurchdringlichen und rußschwarzen Massen von einem Berg
zum anderen schleppen...
Wenn das Gebirge bereits eine unheilschwangere Sache ist, was soll man dann
erst von diesen Seen sagen oh, diese Seen! deren falsches und grausames
Blau, das weder Wasserblau noch Himmelblau noch überhaupt blaues Blau ist, mit
nichts von dem harmonisiert, was sie umgibt und was sich in ihnen spiegelt...
Sie wirken o Natur! wie von Monsieur Guillaume Dubufe gemalt, wenn
sich dieser von Monsieur Leygues so geschätzte Künstler zu den gewaltigen symbolträchtigen
und religiösen Kompositionen aufschwingt... Aber vielleicht könnte ich es den
Gebirgen ja noch verzeihen, daß sie Gebirge, und den Seen, daß sie Seen sind,
wenn zu ihrer natürlichen Feindseligkeit nicht noch jener erschwerende Umstand
hinzukäme, daß sie als Vorwand dafür dienen, daß sich in ihren felsigen Schluchten
und an ihren anweisenden Gestaden derart unerträgliche Kollektionen sämtlicher
Vertreter der Menschheit versammeln. (...)
(Aus "Nie wieder Höhenluft oder Die 21
Tage eines Neurasthenikers" von Octave Mirbeau.
Übersetzt von Wieland
Grommes.)
Dieser Roman aus dem Jahr 1901 ist eine
rabiate Abrechnung mit dem 19. Jahrhundert, ein fulminanter Rundumschlag eines
französischen Karl Kraus. Mirbeau schreckt vor keiner Gemeinheit, keiner Beleidigung,
keinem Sarkasmus zurück. Wie eine gierige
Spinne im Zentrum
ihres Fangnetzes sitzt der Ich-Erzähler Georges Vasseur in einem Pyrenäen-Kurort.
Er wendet sich zunächst gegen die ihn umgebende Bergwelt, eine Manie, die er
alsbald selbst als Alpophobie bezeichnet, ehe er während seiner 21 Tage Kuraufenthalt
die gesamte französische Gesellschaft in einzelnen Episoden wie in einem Panoptikum
Revue passieren lässt. Nichts lässt er ungeschont: Fiktive und authentische
zeitgenössische Größen und Möchtegerngrößen aus
Politik,
Wirtschaft,
Wissenschaft, Adel, Militär und Halbwelt lässt der Autor in einzelnen, im lässigen
Konversationsstil erzählten Geschichten zu Wort und zur Selbstentlarvung kommen.
Sei es die real existierende Person des Dauerministers Georges Leygues, den
er hemmungslos aus dilettierenden Kultusminister entlarvt, sei es die Person
des Kolonial-Generals Archinard, den er in gemeinster Weise als blutrünstiges
Ungeheuer auftreten lässt. Abstruse fiktive Gestalten mit realem Hintergrund
aus dem Journalismus oder der Medizin sprechen offen Dinge aus, und das zumeist
in einem so urkomischen Ton, der ständig zum Lachen reizt, dass der Irrsinn
der oft so heuchlerischen Fin-de-Siècle-Gesellschaft überdeutlich wird. Und
auf äußerst beunruhigende Weise beschleicht den Leser das Gefühl, dass das 20.
Jahrhundert mit seiner Unaufrichtigkeit in Politik und Wirtschaft vielleicht
doch nicht so viel anders war. (Manholt; dtv)
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