(...)
Es war einmal vor langer, langer Zeit eine Mutter, deren Sohn, ein
junger Knabe, frisch wie der Tau, gestorben war - von allen Jungen war
er der Schönste, der Klügste, der Tüchtigste
gewesen. Die Menschen kamen von allen Orten herbei, um der Mutter ihr
Beileid auszusprechen und ihr ein wenig Trost zu spenden, sie aber war
untröstlich - sie beweinte ihn ohne Unterlaß, raufte
sich neben dem Leichnam die Haare und schlug sich
auf die Brust ... Da hörte auch eine Schildkröte die
Totenklagen und hielt es für ihre Pflicht, ebenfalls zur
Beerdigung zu gehen. Wie aber? Mit leerem Schild? Nein, jedermann brachte doch eine
Kerze mit. Sie mußte also auch mit einer Kerze dort
erscheinen. Doch wie sollte sie die Kerze tragen? Sie dachte nach und
dachte nach und fand schließlich die Lösung: Sie
zündete eine Kerze an und klebte sie sich auf den
Rücken.! Und so machte sie sich auf den Weg, mit der
brennenden Kerze auf dem Schild, und hoppedibopp kam sie im Haus des
verstorbenen Jungen an. Kaum hatten aber die ersten Menschen sie im Hof
erblickt, fingen sie an, verstohlen zu lachen, wären fast
geplatzt ... "Wohin des Weges, Frau Schildkröte?" fragten sie.
"Ich möchte von dem jungen Mann Abschied nehmen", sagte sie.
"Und wozu diese Kerze auf deinem Rücken?" fragten sie. "Wieso?
Seid ihr nicht auch mit einer Kerze gekommen, um von ihm Abschied
zunehmen?" sagte die Schildkröte ernst. "Wir sind auch mit
einer Kerze gekommen, aber ...." und hu-hu-hu und ha-ha-ha, sie konnten
sich nicht halten vor Lachen: So etwas hatten sie nie und nirgendwo
gesehen - eine Schildkröte kommt daher, mit einer Kerze auf dem Rücken!
Nirgendwo sonst, und das kam ihnen sehr witzig vor - rührend,
aber auch sehr witzig. Die Schildkröte
ließ sich aber nicht entmutigen, auch von ihrer Trauer nicht
ablenken, und so kam sie vor dem Zimmer an, in dem der tote Knabe
aufgebahrt lag. Doch dort stieß sie auf noch ein Hindernis,
denn an der Schwelle kamen ihr einige Tanten des Verstorbenen entgegen
und wollten sie wegjagen, weil beim Anblick einer so komischen
Schildkröte selbst die vom Schicksal geschlagene Mutter lachen
würde ... "Ich möchte ihm ade sagen, laßt
mich, warum laßt ihr mich nicht?" rief klagend die
Schildkröte. "Wer ist das? Wer ruft so?" fragte, über
die Leiche ihres Sohnes gebeugt, die Mutter. "Eine
Schildkröte!" sagten die Frauen. "Und warum laßt ihr
sie nicht hereinkommen?" staunte sie. "Laßt sie herein ...
Komm rein, Frau Schildkröte, komm, du sollst ihn auch beweinen
..." Und kaum hatte sie ihr das
tränenüberströmte Gesicht zugewandt und sie
erblickt, da lachte auch sie, die vom Schicksal geschlagene Mutter.
Und seitdem müssen die Menschen bei
Beerdigungen auch lachen, heißt es, es
geht nicht anders. Um sie das zu lehren, war die weise
Schildkröte gekommen.
(....)
(aus "Und beim
Licht des Wolfes kehren sie wieder" von Siranna Sateli;
Kiepenheuer
& Witsch Verlag)