Salat: Gut oder schlecht für Sex?

Seit Jahrtausenden wird über die Kräfte und Verwendungsmöglichkeiten des milchigweißen Safts spekuliert, der im Salat enthalten ist. Schon in der altägyptischen Mythologie wird diese Substanz mit Samenflüssigkeit assoziiert. Der Salat der Ägypter hatte schlanke, spitz zulaufende Blätter, die sich um einen hohen phallusartigen Stängel legten. Er war dem Gott Min geweiht, zu dessen Ehren man bei festlichen Umzügen tragbare "Salatbeete" mitführte. Dieser Gott war vor allem für die Vegetation und die Fortpflanzung zuständig, sein Tier war ein weißer Bulle, der zur Steigerung seiner Potenz reichlich grünen Salat zu fressen bekam.
Min, einer der ältesten Götter im ägyptischen Pantheon , wurde mit erigiertem Phallus dargestellt. Er trug eine Kappe mit zwei hohen Federn und zwei langen Bändern, die ihm über die Schulter herabhingen, und in der erhobenen Hand hielt er einen Dreschflegel. Seine Priester bestrichen ihn mehrmals mit einer schwarzen, pechartigen Substanz, die den fruchtbaren Boden Ägyptens und die Verheißung künftigen Wachstums symbolisieren sollte. Beim Erntefest brachte ihm der Pharao feierlich zwei große Salatköpfe dar. In ägyptischen Gräbern aus zahlreichen Epochen sieht man diese Szene auf Reliefs dargestellt, von denen die ältesten etwa viereinhalbtausend Jahre alt sind. Wenn der Pharao während des Erntefestes seinen Nachfolger zeugte, so identifizierte er sich dabei vermutlich mit dem Gott Min. Dessen Schrein stand in einem Garten, in dem lauter Salate wuchsen.
Im Niltal ist noch heute die Ansicht verbreitet, dass grüner Salat potenzsteigernd wirke. Diese Vorstellung scheint bis in pharaonische Zeiten zurückzugehen, denn in den übrigen mediterranen Regionen, aus denen die Salatpflanze ursprünglich stammt, hält sich seit über zweieinhalbtausend Jahren eine ganz andere Sichtweise. Einer weniger verbreiteten Tradition zufolge ist Salat ein Symbol für weibliche Sexualität und der gleichen Vorstellung begegnet man in sumerischen Texten aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend, in denen die Schamhaare der Göttin Inanna mit Salatblättern verglichen werden. Aber im großen und ganzen stimmen die meisten Quellen darin überein, dass Salat kalt und einschläfernd ist - also das genaue Gegenteil eines Aphrodisiakums. "Salat vertreibt die Fleischeslust", schreibt Andrew Boorde im Jahre 1542.

Moderne Chemiker bestätigen, dass die Milch der Salatpflanze, besonders der wilden Sorte Lactuca virosa (wilder Lattich), tatsächlich eine schlaffördernde, opiatartige Substanz enthält. Lattichsaft (Lactuarium) wurde früher als Beruhigungsmittel bei Schlafstörungen, Nervosität, Rheumatismus, Husten, Koliken und bei Seekrankheit verwendet. Eingedickt und zu weißen Pillen verarbeitet, wurde er als schmerzlinderndes Mittel (kombiniert mit Mohnsamen) an Patienten verabreicht, die sich einer Operation unterziehen mussten. Lactuca virosa wird heute noch, speziell in Frankreich, zur Herstellung von Tinkturen für Husten und Bronchialleiden angepflanzt. Die beruhigende Wirkung dürfte auch den Sexualtrieb dämpfen.
Die Menschen haben der Pflanzenwelt gern solche Heilkräfte zugeschrieben, die der jeweiligen äußeren Erscheinung entsprachen. Pflanzen mit lungenförmigen Blättern beispielsweise wurden bei Atembeschwerden gegessen. Paarfrüchte sollten die Geburt von Zwillingen fördern, und Walnüsse, die wie kleine Gehirne aussehen, galten als geeignete Medizin bei Hirnhautentzündung. Im Mittelalter hieß diese Auffassung die Signaturenlehre, und viele Autoren wünschten sich, anhand vergleichbarer Signaturen auch den Wert eines Menschen erkennen zu können.
Die alten Griechen kannten einen Salat, der ihnen besonders geeignet erschien, Lustgefühle zu verhindern. Er war dick und rund (allerdings kein Kopfsalat, diese Sorte wurde erst später gezüchtet) und hatte sehr kurze Wurzeln, war also das genaue Gegenteil der langen, phallusartigen Variante. Pythagoras empfahl seinen asketischen Schülern speziell diese Pflanze, die er "Eunuch" nannte. Frauen dagegen sollen sie als astutis ("erektionsunfähig") bezeichnet haben.

Um die Wirkung eines versehentlich genossenen Aphrodisiakums zu neutralisieren, griff man stets zu Salat. Andererseits erklärt eine Figur in einer antiken Komödie ("Die Impotenten" von Eubulos), dass seine Frau selber schuld sei, wenn sie ihm Salat zu essen gebe. Zum Ausgleich konnte man stimulierende Kräuter hinzufügen. Rauke (rucola ) gilt seit Jahrhunderten als Aphrodisiakum und insofern als besonders gute Ergänzung zum Salat.
Eine weitere Signatur könnte den Ruf des Salats als potenzmindernde Pflanze bestärkt haben: sein Saft wurde nämlich mit Muttermilch assoziiert. Ammen tranken besonders viel Lattichsuppe, und stillende Mütter mussten oft Salat essen. Und interessanterweise hieß der amerikanische Stachelsalat bei den Msekwaki-Indianern "Milchblatt" und wurde für ähnliche Zwecke verwendet. Da das Stillen eine Art natürliche Geburtenregelung ist, kann Milch als Fruchtbarkeitsverhinderer angesehen werden. Junge Frauen, die viel Salat aßen, machte man darauf aufmerksam, dass sie womöglich nicht schwanger wurden. Milch, auch Pflanzenmilch, gilt ja überhaupt als "weiblich", und insofern als Stoff, der den männlichen Geschlechtstrieb nicht fördert.

Da Salat zu neunzig bis fünfundneunzig Prozent aus Wasser besteht, wird er in Wüstenregionen als beliebte Erfrischung geschätzt. An den Ausfallstraßen von Bagdad haben die Händler ihre Verkaufsstände aufgebaut. Die Autofahrer halten an, kaufen einen Salat und essen ihn, so wie er angeboten wird. Ungesalzener Salat soll den Durst sehr viel besser löschen als Wasser. (Im Irak ist die Salatpflanze mindestens seit dem dritten Jahrtausend v. Chr. bekannt, und im siebten Jahrhundert v. Chr. berichteten die Sekretäre des Königs Merodach-Baladan, dass in den hängenden Gärten von Babylon Salat wachse.)
Einen weiteren Grund für den anaphrodisischen Charakter des grünen Salats liefert uns die Humoralpathologie, die ihn, hauptsächlich wegen seines hohen Wassergehalts, als kalt bezeichnet. Die Lehre von den Körpersäften geht, zumindest im Abendland, auf die Hippokratiker zurück. Die Araber übernahmen diesen Ansatz von den Griechen und Römern und gaben ihn an die Spanier weiter, die ihn ihrerseits im sechzehnten Jahrhundert nach Mittel- und Südamerika brachten. Bei den Azteken und anderen indianischen Völkern wurde die hippokratische Theorie sofort angenommen, weil sie ihren eigenen Vorstellungen entsprach. In China und Südostasien sind, offenbar unabhängig davon, die Menschen zu sehr ähnlichen Folgerungen gelangt (über das Yin-yang-System haben wir im Kapitel über den Reis gesprochen).
Nach dieser Auffassung bewegt sich alles Leben auf der Welt innerhalb von Gegensätzen - oben und unten, hell und dunkel, männlich und weiblich, warm und kalt, trocken und nass. Zwischen diesen Gegensätzen muss Harmonie und Ausgewogenheit herrschen, da es andernfalls zu körperlichen Störungen kommt. Gesundheit ist, wie alles im Universum, eine Frage des Gleichgewichts, und die Medizin hat die Aufgabe, das gestörte innere Gleichgewicht hauptsächlich über die Ernährung wiederherzustellen.
Bestimmte körperliche Zustände sind "warm", etwa Fieber, Verbrennungen und Schwangerschaft. Normalerweise wird man in diesem Fall "Kaltes" zu sich nehmen. Jedes Nahrungsmittel hat eine Wertigkeit: beispielsweise ist bei den südmexikanischen Nahuatl-Indianern alles Gemüse "frisch", das heißt "kalt" (weil es Wasser enthält und in bewässertem Boden wächst - und alles, was mit Wasser zu tun hat, ist überwiegend kalt), auch wenn es leicht von der Sonne erwärmt wird. Gemüse ist also kalt, allerdings in Maßen, und kann dazu dienen, einen erhitzten Körper abzukühlen. Ausnahmen von der Gemüseregel sind Erbsen, die insgesamt als kalt gelten, und Chilischoten sowie Zwiebeln, die ganz klar warm sind. Warme Suppe gilt, weil flüssig, als kalt, während Eis warm ist, weil es fest ist, beim Berühren ein Verbrennungsgefühl erzeugt und die Vegetation braun verfärbt. Unterschiedliche Zubereitungsarten (etwa Kochen oder Braten) können den warmen oder kalten Charakter von Nahrungsmitteln abmildern.
Salat ist nach dieser Auffassung selbstverständlich "kalt": er ist saftig, wird roh gegessen, hat eine "kühle" Farbe und braucht einen feuchten Boden. Er passt zu allem "Weiblichen" und ist das Gegenteil von warm, trocken, hell und männlich. Er ist aber eher "frisch" als gefährlich kalt. Schlaflosigkeit ist extrem warm, weshalb Salat die naheliegende Medizin ist.


(Aus "Mahlzeit" von Margaret Visser.)

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