Zeruya Shalev: "Für den Rest des Lebens"
Chemda
Horovitz liegt im Sterben. Über achtzig Jahre alt, befindet
sie sich in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen in einem
Krankenhaus in ihrer Stadt in
Israel. Sie denkt über ihr Leben
nach. Ihre Kindheit, die sie als spät sich entwickelndes Kind
in einem Kibbuz verbrachte, ihren Vater, der sie zum Laufen regelrecht
zwang, an ihre Ehe und vor allem immer wieder an ihre beiden Kinder.
Chemdas "Rest des Lebens" ist knapp bemessen, und sie nutzt ihn, indem
sie nachdenkt.
Auch ihre beiden schon lange erwachsenen Kinder plagen sich nicht nur
mit dem Gedanken an das zu Ende gehende Leben ihrer geliebten Mutter,
sondern sie haben beide unabhängig voneinander erhebliche
Probleme mit ihrem eigenen. Avner ist ein ehemals sehr erfolgreicher
Anwalt, der immer wieder Mandate von palästinensischen
Bürgern annimmt und versucht, ihnen gegen eine
übermächtige israelische Besatzungsmacht zu ihrem
Recht zu verhelfen. Doch in den letzten Jahren kann er nicht mehr viel
erreichen. Da auch seine Ehe an einen kritischen Punkt gekommen ist,
befindet er sich mitten in einer ernsten Lebenskrise, als er im
Krankenhaus seiner Mutter zwei Menschen beobachtet, eine Frau und einen
Mann. Der Mann liegt im Sterben, und die Frau spricht sehr liebevoll
mit ihm. Avner erscheint dies als Sinnbild für das, was in
seinem eigenen Leben fehlt, und er versucht nun in der Folge, der
Geschichte des zwischenzeitlich verstorbenen Mannes nachzuforschen und
vor allen Dingen dieser Frau nahezukommen. Er ist ihr regelrecht
verfallen, doch sie erwidert seine Liebe nicht.
Dina, die Tochter von Chemda Horovitz, hat Probleme eigener, weiblicher
Art. Ihr Mann Gideon hat lange Jahre hindurch ihren Wunsch nach einem
zweiten Kind abgelehnt, und nun, da sich die gemeinsame Tochter Nizan
in der Pubertät von ihrer Mutter löst, fällt
Dina in ein tiefes Loch. Sie glaubt es schließen zu
müssen, indem sie ein Kind adoptiert. Dafür
unternimmt sie die unmöglichsten Anstrengungen und gibt sie
auch bis zum überraschenden Ende des Buches nicht auf.
Was hier so klingt wie ein Roman über die Mittlebenskrisen
zweier Menschen und ihre Familien, ist aber viel mehr. Wie in ihren
früheren Romanen auch, geht es Zeruya Shalev nicht
nur um das Innenleben der Menschen, die sie beschreibt, sondern es geht
ihr auch immer um das Land, in dem sie leben. Es geht um Israel, seine
Geschichte und schwierige Gegenwart. Und so erfahren wir viel
über die Welt des Kibbuz, über die Ideologie der
Staatsgründer, wir erfahren etwas über die aktuelle
politische Situation.
Das, was den einzelnen Menschen geschieht, wie sie versuchen, die
Frage, was sie mit dem "Rest des Lebens" anfangen sollen, wie sie ihrem
Leben einen Sinn
geben und positive Perspektiven für ihre
Zukunft entwickeln können - in all dem scheint zwischen den
Zeilen auch immer die Frage durch, wie es mit diesem zerrissenen und
gebeutelten Land weitergehen soll, das als Zuflucht
für alle verfolgten Juden, als ein Land, in dem die
Gerechtigkeit wachsen kann, gedacht war.
Sie tut es, indem sie ihre Protagonisten zu den Anfängen
zurückkehren lässt. Beide, Avner und Dina, sitzen
immer wieder getrennt und auch zusammen am Sterbebett ihrer Mutter
Chemda, und irgendwann, Chemda ist vom Krankenhaus nach Hause verlegt
worden und wird von eine Pflegerin betreut, ziehen beide sogar wieder
bei der Mutter ein, als die Konflikte in den beiden Ehen zu
groß werden. Dina formuliert an einer Stelle:
"Die Zeit verspottet ihre Kinder, ist es nicht
lächerlich, in der Mitte des Lebens, zum ersten Mal die
Existenz der Ursprungsfamilie zu spüren?"
Und auch Avner lässt die Autorin an einer Stelle einen Satz
sagen, der für den israelischen Staat genauso Geltung hat wie
für Avners Familie: "Kann man gegen die Angst
kämpfen, ohne Angst zu erzeugen? Kann man sich
schützen ohne anzugreifen?"
Zeruya Shalevs Sprache ist mächtig. Lange Sätze baut
sie, setzt viele Kommata, will gar nicht zum Ende kommen. Sie wechselt
wie spielerisch die Zeitebenen und die Sphären von Traum und
Wirklichkeit. Doch schnell hat man sich an diesen faszinierenden Stil
gewöhnt und liest sich wie mit angehaltenem Atem durch einen
Roman, der den Rezensenten bis zum Ende gefesselt hat.
(Winfried Stanzick; 02/2012)
Zeruya
Shalev: "Für den Rest des Lebens"
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Berlin Verlag, 2012. 528 Seiten.
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