Über elektronische Krokodile

Fragmente eines längeren Gesprächs, rekonstruiert nach Tonbandaufnahmen der Studenten.
"Der Architekt, dieser seltsame Kauz - wie sollten wir ihn definieren?"
Ein boshaftes Flüstern: "Ein kleiner grüner Steinbeißer!"
"Und der Stadtplaner?"
Eine Männerstimme: "Ein großer grüner Steinbeißer, eine Art Krokodil!"
Ich tat erstaunt: "Wissen Sie nicht, daß Urbanisten und Krokodile seit langem etwas Gemeinsames haben?" Seltsamerweise erschien ihnen der Gedanke nicht überspannt und dümmlich. Darum konnte ich ruhig fortfahren: "Laut einer der vielen altägyptischen Legenden über die Entstehung des Kosmos legten die Götter das Ei der Welt auf ein Häufchen Schlammerde aus dem himmlischen Nil. In dieser auf den ersten Blick kindlichen Geschichte verbirgt sich eine ausgesprochen urbanologische Synopsis. Die Zusiedler suchten in den Mooren des Deltas nach dem Krokodilei, und wenn sie es fanden, wußten sie mit Sicherheit, daß der heilige Dämon ihnen unfehlbar eine Lage jenseits der periodischen Überschwemmungen angezeigt hatte. Dort bauten, meißelten, kneteten sie dann ihre neolithischen Lehmdörfer. Heute könnten wir ihren Trick als prognostische oder futurologische Technik bezeichnen. Und was das Krokodil betrifft, unseren professionellen Vorfahren, so wurde es gerade als Kenner der geheimen kosmischen Rhythmen und aus anderen wichtigen Gründen in Ägypten sehr geschätzt und verehrt. Die Ohren und die Nüstern wurden mit Edelsteinen und die Klauen mit goldenen Medaillen geschmückt ..."
Eine weibliche Flüsterstimme: "Such dir aus, ob du ein kleines oder ein großes Krokodil sein willst!"
Eine männliche Flüsterstimme: "Ein Alligator, wenn schon ..."
Jahrelang erlaubte ich den Studenten, mich zu unterbrechen, meine Worte zu ergänzen und zu kommentieren, ja mich zu verwirren. Die Einwürfe amüsierten mich ebenso wie sie und führten oft zu unvorhersehbaren und interessanten Abweichungen. Sie konnten auch eine willkommene Gelegenheit zu einer Atempause sein.
"Fragen Sie mich", sagte ich, "wo unsere heutigen weisen Krokodile sind und was sie tun, und prüfen Sie, ob sie jemanden lehren können, sich vor den zerstörerischen Verschmutzungen der heutigen Welt zu retten."
Allerdings war die damalige Welt weit weniger verschmutzt als jetzt am Ende des Jahrtausends. Heute, würde man sagen, können auch die perfektesten digitalen Cyber-krokodile ihre Eier nicht mehr da ablegen, wo es nötig wäre, und damit der Beton-Nekrose Grenzen setzen. Noch schlimmer: Wir finden uns mit dieser Nekrose ab. Wir ergeben uns mit einem Gefühl seliger Euphorie - in medizinischem Sinne. Damals jedoch, vor mehr als dreißig Jahren, dachte ich nicht an Ergebung an das Schicksal, schon gar nicht vor den Studenten. Trotzdem konnte ich in dem Augenblick nur ein kleines bißchen Sarkasmus anbieten: "Es sieht so aus, als wären die modernen Krokodile weniger intelligent oder weniger vorsichtig als jene ur-uralten."
"Lassen sie uns ein Liedchen singen, Professor ... 'Auch die Krokodile sind benommen'."
"Liedchen hin, Liedchen her, das Unglück liegt nicht nur in unserer Unfähigkeit, der Aggression des Betonschlamms zu begegnen, der Felder und Städte überschwemmt, sondern darin, daß dieser Schlamm, wenn er erhärtet, zum undurchdringlichen Panzer wird. Er umklammert, ummauert, inhaftiert sozusagen unseren Planeten, und die weisen und närrischen atmosphärischen Wässer finden immer schwerer ihren Weg zur Mutte Erde, zum natürlichen Boden, und die Zyklen künftiger biblischer Sintfluten kündigen sich erst an."
Die Predigt ging mit unverminderter Überzeugung weiter, und soweit ich mich erinnere, hob ich bei solchen Gelegenheiten, um suggestiver zu sein, den Ton wie jeder Prediger: "Hören Sie, wir zerreißen den vierfachen Kranz der Elemente, wir zerbrechen die große Tetrade an zwei oder gar drei Stellen; wir trennen die Erde von Luft und Wasser, und das geht nicht ungestraft. Wir öffnen also Überschwemmungen, Erdrutschen, Fluten weit die Tür ... Die Verkehrswege, die Industrie, die Städte, eine ganze betonierte Zivilisation bekommt allein durch ihre Existenz immer mehr die Eigenschaften einer stillen, langsamen, aber unabwendbaren Katastrophe."
"Setzen wir ihnen Betonhüte auf!" rief der Liedermacher.
"Wem denn bloß?"
"Den Erbauern der neuen, besseren Welt."
"Warum denn bloß?"
"Als Erkennungszeichen, damit ihnen die Kinder aus dem Weg gehen."
Selbst in unserem heiligsten Zorn haben wir ihnen bis heute keine Betonhüte aufgesetzt, schon weil wir nicht wußten, wem sie vor allem gebühren. Aber in jener fernen Zeit, Mitte der siebziger Jahre, senkten sich die Gottesstrafen schwerer als Betonhüte auf uns herab, und jetzt, zum Ende des Millennium, sind sie uns gewiß. Feuer und Rauch - diese dritte oder sogar vierte Trennung der Urelemente - zerreißen schamlos die Ozonhülle, und Luftwirbel, die der Phantasie von Edgar Allan Poe oder William Blake würdig sind, erschüttern die Kontinente. Damals, vor einem Vierteljahrhundert, konnte ich verständlicherweise nichts voraussagen, aber für alle Fälle versuchte ich, etwas resigniert zu schlußfolgern: "Wenn ich also die Dinge um mich und in mir betrachte, dann ist mir völlig klar, daß ich selbst ein Mensch dieses 20. Jahrhunderts bin. Doch ich bin mit meiner Zeit nicht ausgesöhnt. Manchmal komme ich mir vor wie Gulliver auf der Insel Laputa, als er ihre Institutionen aufsuchte und die ehrgeizigen wissenschaftlichen Programme ihrer Akademiker kennenlernte. Die heutigen Laputaner verfügen natürlich nicht über die köstlich absurden Ideen von Jonathan Swifts Szientismus. Der Pseudoszientismus der modernen Laputaner hat nicht einmal in seinen kühnsten wissenschaftlichen beziehungsweise verrücktesten Eskalationen die ungetrübte Heiterkeit der einfältigen laputanischen Synthesen, die vermutlich noch immer weit besser sind als der analytische Nihilismus. Die modernen Laputaner schaffen nichts, sie können nicht einmal einen Braten in Form einer Violine zubereiten, aber alles, was sie berühren, zerstören sie erbarmungslos durch ihre pedantische Zergliederung. Ohne Scheu machen sie die letzten Konturen des Ganzen, unser liebes, altmodisches, schon ziemlich zerrissenes Bild von Allem zu einer erstaunlichen Induktion des Nichts. In seiner Einseitigkeit hat es unser wissenschaftliches Jahrhundert weit gebracht. Und so wird es vielleicht dazu kommen, daß sein größtes Verdienst darin liegt, in uns allen nach dem Naturgesetz der Reaktion das Bedürfnis nach Widerstand und Verteidigung zu wecken. Vielleicht erweckt es sogar den Wunsch, das zerrissene Bild neu zusammenzusetzen. Doch dieser tröstliche Gedanke ist bis heute nichts weiter als Sokrates' berühmter 'frommer Traum'."
Ich konnte das Gespräch oder die Vorlesung - wie man will - nur noch zu Ende bringen: "Wir sind, wo wir sind, und eine wunderbare alte Weisheit lehrt uns, daß wir nicht aus unserer Haut entfliehen können."
"Ach", seufzte eine Zuhörerin verständnisvoll. "Nirgendwohin!"
"Doch, doch", entgegnete ein Kollege hinter ihr, "du mußt nur diesen Hai ausziehen!" Sie war nämlich nach der damaligen Mode in sehr dünnes, elastisches Leder gekleidet. Ob es von einem Seeungeheuer oder einem naiven kleinen Krokodil stammte - das war für das ökologische Schicksal der Menschheit ohne größere Bedeutung. (...)


(aus "Vom Glück in den Städten" von Bogdan Bogdanovic
Aus dem Serbischen von Barbara Antkowiak; Zsolnay 2002)
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