Leseprobe aus "Die Rose von Asturien"
von Iny Lorentz
Eine alte Feindschaft
1.
Im Osten bedeckte der erste Hauch der Dämmerung die Berge, während der
westliche Horizont in flammendem Rot leuchtete, als könne der Tag sich
nicht entschließen, der Nacht zu weichen. Die Reiterschar, die zu dieser
Stunde unterwegs war, achtete jedoch weder auf die beginnende Dunkelheit
noch auf das prächtige Farbenspiel am Himmel. Das Gesicht ihres
Anführers war düster, und in seinen Augen leuchtete blanke Wut.
Drei Tage lang hatte Roderich, der Grenzgraf der baskischen Mark, die
Diebe verfolgt, die eine seiner Schafherden geraubt hatten, und war
dabei ein ums andere Mal in die Irre geleitet worden. Obwohl er zu
wissen glaubte, wer dahintersteckte, hatte er die Verfolgung abbrechen
müssen, weil die Schar seiner Krieger, die ihn auf die Jagd
begleitete, zu klein war. Auf einen ernsthaften Kampf mit dem kompletten
Stamm der Schafdiebe durfte er sich nicht einlassen.
Daher war die Stimmung ausgesprochen schlecht, und seine Leute
verschafften ihrer Wut mit Flüchen Luft.
"Beim heiligen Jakobus, diese Bergwilden lachen sich ins Fäustchen, weil
wir uns wie Hunde mit eingezogenen Schwänzen davonmachen müssen",
schimpfte Ramiro, der Stellvertreter des Grafen.
Der ging nicht auf seine Worte ein, sondern winkte ihm, still zu sein.
"Vorsicht, da vorne ist jemand. Haltet die Waffen bereit!" Er sprach so
leise, dass es nur der Reiter direkt hinter ihm hörte. Dieser gab die
Warnung weiter, und innerhalb kürzester Zeit hatten alle Männer die
Schilde fester gefasst und ihre Speere gesenkt.
Das Geräusch, das den Grafen hatte aufmerksam werden lassen, stammte
jedoch nur von einem einzigen Mann, der auf einem in blutrotes Licht
getauchten Felsen saß. Obwohl Graf Roderich wenig mehr als einen
Schattenriss ausmachen konnte, war ihm klar, dass er einen Waskonen vor
sich hatte, und zog sein Schwert.
Im gleichen Augenblick stand der Mann auf, sprang vom Felsen und hob die
Hände, um seine friedlichen Absichten zu zeigen.
"Einen schönen guten Abend wünsche ich dir, Graf Roderich", grüßte er.
"Er wird gleich noch schöner werden, wenn dein Blut an meinem Schwert
glänzt!" Roderich schlug jedoch nicht zu, sondern musterte den Waskonen
mit durchdringendem Blick. Den Kerl hatte er schon ein paarmal gesehen
und glaubte sich an seinen Namen erinnern zu können. Dennoch tat er so,
als sei der andere ihm fremd. "Was willst du? Sprich schnell, denn meine
Klinge ist durstig."
"Ich will mit dir reden, Graf Roderich, und dir einen Gefallen
erweisen." Der Waskone warf einen vielsagenden Blick auf die Begleiter
des Grafen. "Es wäre mir lieb, wenn wir unter vier Augen sprechen
könnten!"
Der Graf schüttelte den Kopf. "Ich vertraue den Männern meiner Leibschar
mein Leben an. Also sprich, wenn du das deine behalten willst."
"Sie sollen schwören, nichts von dem zu erzählen, was sie jetzt hören
werden", forderte der Waskone.
"Meine Krieger sind keine Schwatzmäuler. Und jetzt rede endlich!" Auf
einen Wink des Grafen umringten die Reiter den Waskonen und richteten
ihre Speere auf ihn. Der Mann strich sich mit der Zunge über die
trockenen Lippen und lachte, um seine Nervosität zu verbergen.
"Du bist auf der Suche nach den Männern, die deine Schafe gestohlen
haben. Was würdest du sagen, wenn ich dir helfen würde, ihren Anführer
und dessen Spießgesellen in deine Gewalt zu bekommen?"
Die Miene des Grafen wurde noch grimmiger. "Wenn du mich veralbern
willst, hast du dir einen verdammt schlechten Tag dafür ausgesucht."
Für einen Augenblick sah es so aus, als würde er den Waskonen einfach
niederschlagen, dann aber siegte doch seine Neugier. "Gesetzt den Fall,
du meinst es wirklich ehrlich: Warum würdest du das tun wollen?"
"Dein Feind hat mich schwer beleidigt", antwortete der Waskone nach
einem kaum merklichen Zögern.
Um die Lippen des Grafen spielte nun ein spöttisches Lächeln. "Das soll
ich dir glauben? Ich weiß genau, in welchem Verhältnis du zu diesem
Schafdieb stehst. Also soll ich ihn dir aus dem Weg räumen, damit du an
seiner Stelle meine
Schafe stehlen kannst!"
Der Mann begriff, dass dies keine Lösung war, die dem Grafen gefallen
konnte, und ging aufs Ganze. "Was würdest du sagen, wenn unser Stamm dir
Schafe als Tribut zahlen würde, anstatt sie dir zu stehlen?"
Nun nickte der Graf unwillkürlich. "Damit könnte ich mich anfreunden.
Aber dazu muss ich in euer Dorf kommen, um euren Treueschwur
entgegenzunehmen, und zwar ohne Kampf."
Diese Entwicklung sagte dem Waskonen nicht gerade zu, dennoch stimmte er
schließlich zu. "Also gut! Aber dazu muss der Wächter abgelenkt werden,
und das ist mir unmöglich. Doch du könntest es tun." Der Mann trat näher
an den Grafen heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Roderich nickte
dazu und grinste.
"Schön! Aber wehe dir, wenn du mich belogen haben solltest. Die Berge
wären nicht hoch und nicht weit genug, um dich vor meiner Rache zu
bewahren!"
Der Waskone lachte. "Ich liefere dir deinen schlimmsten Feind aus und
übergebe unseren Stamm deiner Oberherrschaft. Dafür habe ich wohl eher
eine Belohnung als eine Drohung verdient."
"Es ist schon Belohnung genug, dass du dein Leben behalten darfst", warf
Ramiro ein. Er traute dem Waskonen noch weniger als sein Herr und hätte
ihn am liebsten mit dem Speer niedergestoßen.
Der Graf hob jedoch die Hand. "Halt! Wir vergeben uns nichts, wenn wir
so tun, als würden wir ihm glauben. Ist er ehrlich, schalten wir damit
einen hartnäckigen Feind aus und stärken unseren Einfluss in dieser
Gegend. Versucht er uns zu betrügen, werden unsere Schwerter und Speere
ihn eines Besseren belehren." Dann wandte Roderich sich wieder dem
Waskonen zu. "Morgen Abend, sagst du, will dein Häuptling eine weitere
Schafherde stehlen? Er denkt wohl, er habe uns weit genug in die Berge
gelockt, so dass wir ihm nicht in die Quere kommen können!"
"Genauso ist es, Graf Roderich", erklärte der Waskone eilfertig.
"Gut! Wir werden ihn erwarten. Sollte er nicht kommen, wäre es besser
für dich, mir so schnell nicht mehr unter die Augen zu kommen. Damit
Gott befohlen!" Der Graf winkte seinen Männern zu, ihm zu folgen, und so
blieb der Waskone allein zurück. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Gier
und leiser Triumph. Wenn der Graf keinen Fehler beging, würde er in
wenigen Tagen der Herr seines Stammes sein und endlich die Stellung
einnehmen, auf die er seit Jahren hinarbeitete.
2.
Graf Roderich winkte seinem Stellvertreter zu. "Ist alles bereit?"
"Das ist es, Don Rodrigo!" In seiner Erregung sprach der Mann seinen
Herrn mit der hispanischen Form des Namens an.
Der Graf schüttelte unwillig den Kopf, sagte aber nichts, sondern
versuchte, aus dem dichten Wald heraus, in dem er und seine Reiter sich
versteckt hielten, die Weide und die drei Hirten im Auge zu behalten,
die dort etliche Dutzend Schafe hüteten. Vier große, schwarzweiß
gefleckte Hunde umkreisten die Herde.
Für seinen Feind musste dieser Anblick einfach verlockend sein, fuhr es
Graf Roderich durch den Kopf. Gleichzeitig packte ihn die Sorge, dass er
und seine Männer durch einen dummen Zufall entdeckt würden.
"Passt auf eure Gäule auf. Nicht dass einer zur unrechten Zeit schnaubt
oder gar wiehert!" Die Warnung war überflüssig, denn jeder wusste,
worauf es ankam. Nur wenn es ihnen gelang, die Schafdiebe in die Falle
zu locken, würden sie die Kerle erwischen.
"Einer der Hirten macht ein Zeichen. Es sieht aus, als hätte er oder
einer der Hunde etwas bemerkt!" Obwohl Ramiro flüsterte, fing er sich
einen tadelnden Blick seines Anführers ein.
Auch Graf Roderich war aufgefallen, dass die Hunde
unruhig wurden. Drei Hirten und vier Hunde reichten im Allgemeinen aus,
um ein halbes Dutzend Schafdiebe abzuschrecken. Sein persönlicher Feind
jedoch kam wahrscheinlich mit einem Trupp Krieger, der nicht kleiner war
als die Gruppe, die ihn begleitete. Dennoch war er nicht beunruhigt. Die
Männer seiner Leibschar hatte er mit Bedacht ausgewählt, jeder von ihnen
konnte es mit zwei bis drei Gegnern aufnehmen. Außerdem waren sie
beritten und mit ihren längeren Speeren jedem Fußkämpfer gegenüber im
Vorteil.
"Da oben sind sie!" Einer seiner Männer wies auf den felsigen Berghang,
der die Weide auf der linken Seite begrenzte. Jetzt sah der Graf sie
auch. Mindestens zwei Dutzend Männer schlichen sich dort im Schutz der
Felsen an, weit mehr, als er erwartet hatte. Die Waskonen bewegten sich
geschickt gegen den Wind, doch der erfahrene Hütehund hatte Witterung
aufgenommen. Auf das Zeichen eines Hirten trieb der Rüde zusammen mit
den anderen Hunden die Schafe in Richtung des Wäldchens, in dem sich die
Reiter versteckt hielten.
Graf Roderich begriff, dass er an diesem Tag eine zweite Herde an diese
verdammten Bergwilden verloren hätte, wäre er nicht von dem Verräter
gewarnt worden. Grimmig nickte er seinen Männern zu.
"Diesmal zeigen wir es ihnen. Wir machen keine Gefangenen, bis auf ...",
er wies auf einen der anschleichenden Waskonen, "... bis auf diesen
Blondschopf dort. Den lasst am Leben! Wir brauchen ihn noch."
"Sollen wir den Kerl gefangen nehmen?", fragte Ramiro.
"Ja, aber er muss verletzt sein. Unversehrt nützt er uns nichts. Und
jetzt still! Die Kerle kommen." Graf Roderich zog sein Schwert so leise,
wie es möglich war, aus der Scheide und bleckte die Zähne.
An diesem Abend würden die Schafdiebe für all den Ärger bezahlen, den
sie ihm seit Jahren bereiteten. Seine Augen saugten sich an dem nicht
übermäßig großen, aber sehnigen Anführer der Waskonen fest. Er konnte
nicht mehr sagen, wie oft dieser Schurke ihn bereits an der Nase
herumgeführt hatte. Wahrscheinlich hatte das Weib des Kerls schon seit
Jahren kein eigenes Schaf mehr in den Kochkessel stecken müssen, so
viele hatte der Mann seinen Nachbarn gestohlen und nach Hause gebracht.
Inzwischen waren die Angreifer nahe genug herangekommen und stürmten nun
brüllend auf die drei Hirten zu. Diese hoben zuerst ihre mit
Eisenspitzen bestückten Stöcke, die sich für den Kampf gegen Bären,
Wölfe und Viehdiebe sehr gut eigneten. Dann aber wichen sie von der Zahl
der Waskonen erschreckt zurück und trieben dadurch die Schafe ein Stück
weiter nach unten.
"Gut gemacht", murmelte der Graf und zügelte seinen unruhig werdenden
Hengst. Auch die Männer an seiner Seite gierten danach, gegen die
Waskonen anzureiten.
Gebieterisch hob Roderich die Hand. "Wartet! Erst müssen alle Kerle auf
der Weide sein. Ich will nicht, dass einer zwischen die Felsen fliehen
kann und entkommt. Dort hinauf müssten unsere Pferde fliegen."
Einer der Männer lachte, brach aber sofort ab, als Ramiro ihm einen Stoß
versetzte. Zum Glück waren die Waskonen selbst zu laut, als dass sie ihn
hätten hören können. Ihres Erfolges sicher, sammelten sie sich jetzt auf
dem oberen Teil der Weide, und ihr Anführer teilte sie auf, um die Herde
abzufangen.
Auf diesen Augenblick hatte Graf Roderich gewartet. "Los, Männer!", rief
er und trieb seinen Hengst an. Solange sie noch zwischen Bäumen waren,
musste er vorsichtig reiten, doch kaum hatte er die Weide erreicht, gab
er dem Tier die Sporen. Hinter ihm tauchten seine Reiter aus dem
Waldesdunkel auf und stürzten sich auf die überraschten Feinde.
Deren Anführer rief seinen Männern zu, zum Felshang zu rennen, und
versuchte selbst, das rettende Gelände zu erreichen. Doch das hatten
Roderichs Reiter vorausgesehen und schnitten den Fliehenden den Weg ab.
Gleichzeitig zuckten die Spitzen ihrer Speere auf die Diebe zu. In den
Bergen waren die Waskonen gefährliche Gegner, die aus dem Hinterhalt
zuschlugen und ebenso gut klettern konnten wie ihre Ziegen. Hier auf der
sanft abfallenden Wiese aber saßen sie in der Falle. Von den besser
bewaffneten Reitern in die Zange genommen, versuchten die Schafdiebe
vergeblich zu fliehen. Einige warfen sogar die hinderlichen Speere fort,
um sich mit gewagten Sprüngen in Sicherheit zu bringen. Sie wurden als
Erste getötet.
Der Anführer der Waskonen versuchte, mit den Überlebenden einen
Verteidigungsring zu bilden, doch die Asturier nutzten den Vorteil ihrer
längeren Speere gnadenlos aus. Während keiner von ihnen ernsthaft
verwundet wurde, sank ein Waskone nach dem anderen zu Boden.
Zuletzt standen nur noch der Anführer und der blonde Bursche auf den
Beinen. Sie tauschten einen Blick und rannten dann brüllend auf die
Asturier zu.
Graf Roderich nahm noch wahr, wie der Blonde, der am Oberschenkel und an
der Schulter verwundet war, dennoch weiterzukämpfen versuchte. Dann sah
er sich dem Anführer der Schafdiebe gegenüber, der seinen Hengst
fixierte. Roderich ahnte, dass der Kerl sein Pferd töten wollte, um ihn
zu Fall zu bringen, und zwang das Tier dazu, ein paar Schritte
rückwärtszugehen. Bevor der Waskone ihm folgen konnte, waren Ramiro und
mehrere andere Reiter heran und rammten dem Mann ihre Speere in den
Leib.
Noch während der Waskone zu Boden stürzte, lachte Ramiro wie befreit
auf. "Der Kerl hat das letzte Schaf aus unseren Herden geraubt, Don
Rodrigo."
"Wickelt seinen Kadaver in eine Decke und bindet ihn auf ein Pferd. Was
ist mit dem Blondschopf? Lebt der noch?"
Ramiro nickte eifrig. "Das tut er, Herr. Auch wenn ich nicht recht
begreife, warum wir ihm nicht ebenfalls das Lebenslicht ausblasen
sollen."
"Ich sagte, wir brauchen ihn noch. Also sorgt dafür, dass er lange genug
am Leben bleibt. Unsere Verletzten bleiben hier und helfen den Hirten,
die toten Schafräuber in die nächste Schlucht zu werfen. Die Übrigen
kommen mit mir!" Graf Roderich war zufrieden. Ein wenig bedauerte er es,
den feindlichen Anführer nicht selbst getötet zu haben, doch sein Hengst
war zu wertvoll, um ihn von einem Bergwilden aufspießen zu lassen.
Außerdem war sein Gegner wie ein Dieb gekommen und hatte wie ein solcher
geendet. "Auf geht’s, Männer! Wir haben noch einen kleinen Ausflug in
die Berge vor uns. Ramiro, du nimmst zwei Reiter und bringst den
Verletzten ein Stück über die Grenze und legst ihn dort neben die
Straße. Achtet darauf, dass die Leute euch dort sehen, aber lasst euch
nicht erwischen."
"Das werden wir gewiss nicht, Graf Roderich!" Ramiro hatte sich
rechtzeitig daran erinnert, dass sein Herr die visigotische Form seines
Namens der hispanischen Variante vorzog, und verabschiedete sich mit
einem erwartungsfrohen Grinsen.
"Ihr stoßt kurz vor unserem Ziel wieder zu uns. Und nun beeilt euch!"
Der Graf winkte Ramiro und dessen Begleitern kurz zu und ritt dann an.
Seine Schar folgte ihm im Bewusstsein des eben errungenen Sieges und war
bereit, ihm bis an die Pforten der Hölle
zu folgen.
3.
Maite starrte fassungslos auf die Reiter, die mit hochmütigen Mienen in
ihr Dorf einritten, als sei es ihr gutes Recht, und wünschte, ihr Vater
wäre da, um den Kerlen die Zähne zu zeigen. Bei den ungebetenen
Besuchern handelte es sich um zwei Dutzend Krieger, von denen jeder eine
eiserne Rüstung trug und Schwert und Helm besaß. Die meisten hielten
lange Speere in der Rechten und lenkten ihre Rosse mit der anderen Hand.
Die Schilde hatten sie auf den Rücken geworfen, als hätten sie hier
nicht das Geringste zu befürchten. Dabei handelte es sich um asturische
Krieger, und das waren die schlimmsten Feinde, die Maite sich vorstellen
konnte.
Ihr Anführer war ein echter Visigote, ein selbst im Sattel noch
hochgewachsen wirkender Mann in einem Kettenhemd nach maurischer Art,
mit schulterlangen blonden Haaren und blauen Augen, die so kühl blickten
wie Eis. Mit verächtlicher Miene musterte er das Dorf mit den aus
Bruchsteinen und Holz errichteten Häusern, deren Dächer mit Steinen
beschwert waren. In seinen Augen war Askaiz ein Bergnest, in dem der
reichste Bewohner kaum mehr besaß als der ärmste und die Ehefrau des
Häuptlings ihre Wäsche ebenso selbst waschen musste wie die geringste
Magd.
Graf Roderich war jedoch nicht gekommen, um sich das Dorf anzusehen. Auf
seinen Wink hin führte einer seiner Begleiter ein Saumpferd heran,
schnitt die Stricke durch, mit denen ein längliches, in Tuch
eingeschlagenes Bündel am Tragsattel befestigt war, und ließ dieses zu
Boden fallen. Dann packte er das Tuch mit beiden Händen und riss daran.
Zum Vorschein kam ein blutverschmierter Leichnam.
Als die Dorfbewohner den Toten erkannten, brüllten und heulten sie so,
dass es von den nahen Bergflanken widerhallte. Da die Erwachsenen Maite
die Sicht verdeckten, sah sie zu Estinne, der Frau ihres Onkels, auf.
"Was ist da los?"
"Nichts, Kind!", rief diese mit gepresster Stimme und versuchte sie
wegzuzerren.
Maite riss sich los und zwängte sich durch die Menge. Es dauerte einige
Augenblicke, bis sie begriff, dass der blutverschmierte Tote ihr Vater
war. Zuerst stand sie wie versteinert. Dann brach ein schier
unmenschlicher Ton aus ihrer Kehle, so schrill und laut, dass die Pferde
der Eindringlinge unruhig wurden.
Sie ballte die Fäuste und wollte auf die Asturier losgehen, doch eine
Frau hielt sie fest. "Sei still, Kleines! Sonst tun dir die bösen Männer
noch etwas an."
Graf Roderich ließ den Dörflern, die ihren erschlagenen Häuptling
fassungslos anstarrten, etwas Zeit zu begreifen, dass sich der Wind
gedreht hatte. Dann begann er, mit weittragender Stimme zu sprechen:
"Euer Anführer Iker und seine Spießgesellen haben sich zu nahe bei
meinen Schafherden herumgetrieben. Dabei haben meine Hirten sie erwischt
und bestraft. Ich bringe euch seine Überreste, damit ihr wisst, was euch
blüht, wenn sich noch mal einer von euch bei meinen Herden blicken
lässt."
Maite wollte dem Mann entgegenbrüllen, dass ihr Vater ein großer Krieger
gewesen war, der es mit einem Dutzend asturischer Schafhirten
aufgenommen hätte. Die Frau, die sie festhielt, presste ihr jedoch die
Hand auf den Mund, so dass sie kaum Luft bekam. Maite strampelte wütend,
um freizukommen. Da trat Estinne hinzu und half, das tobende Mädchen zu
bändigen.
Da sie nichts anderes tun konnte, funkelte Maite die eigenen Männer an,
die wie Schafe herumstanden und vor Angst zu vergehen schienen, obwohl
sie Roderichs Schar der Anzahl nach weit überlegen waren. Die Asturier
waren in Askaiz aufgetaucht, ohne dass Asier, der Wache halten sollte,
das Dorf gewarnt hätte. Nun starrten die Bewohner auf die blitzenden
Schwerter und Speerspitzen der Eindringlinge und wagten sich nicht zu
rühren.
Maite empfand in diesem Moment mehr Wut als Entsetzen oder Trauer. Ihr
Vater wäre mit dem aufgeblasenen Grafen und seinen Reitern fertig
geworden, das wusste sie. Daher gab es für sie nur einen Schluss: Die
Asturier mussten ihn in eine Falle gelockt haben.
Graf Roderich bemerkte die Drohgebärden des Kindes nicht einmal, sondern
ließ den Blick selbstzufrieden über die erstarrten und verängstigten
Gesichter der Bewohner von Askaiz schweifen. Ohne einen kühnen Anführer
wie Iker sind sie wie Schafe, die vor dem Wolf zittern, dachte er und
deutete auf einen der Männer. "Wer ist nun euer Anführer? Er soll
vortreten und hören, was ich ihm zu sagen habe!"
Einige der Umstehenden drängten zur Seite und öffneten eine Gasse für
den Schwager des toten Häuptlings. Okin, der die dreißig bereits vor
Jahren überschritten hatte, war ein kräftig gebauter Mann mit rundlichem
Gesicht, das seinen sonst verkniffen wirkenden Ausdruck mit einem Mal
verloren zu haben schien. Er ging breitbeinig auf Roderich zu, blieb
zwei Schritte vor dessen Pferd stehen und verschränkte die Arme vor der
Brust.
"Was willst du?"
Über das Gesicht des Asturiers huschte ein kurzes Zucken, und dann
trafen sich die Blicke der beiden Männer in heimlichem Einverständnis.
Als Roderich zu sprechen begann, klang seine Stimme jedoch schroff.
"Bist du der neue Häuptling?"
"Ich bin Ikers Schwager und von ihm beauftragt, den Stamm während seiner
Abwesenheit zu führen."
"Dann wirst du deinen Stamm wohl auf Dauer führen müssen, es sei denn,
Iker kehrt aus der Hölle zurück!" Roderich lachte, während Okins Augen
zufrieden aufleuchteten.
Da trat ein alter Mann vor und hob abwehrend die Hand. "Der Visigote
kann sagen, was er will, Okin. Du wirst nur so lange unser Anführer
sein, bis Ikers Tochter alt genug ist, sich einen Mann zu wählen. Dieser
wird dann die Stelle ihres Vaters einnehmen!"
Obwohl Maite erst acht Jahre zählte, begriff sie, dass von ihr die Rede
war. Nach dem Tod ihres Vaters floss das Blut der alten Häuptlinge nur
noch in ihren Adern, und es war ihre Aufgabe, es an die nächste
Generation weiterzugeben. Dafür war sie jedoch noch viel zu jung. Das
machte sie noch wütender, denn nun gab es niemanden, der ihren Onkel
hindern konnte, sich vor den anderen Stammesmitgliedern als Anführer
aufzuspielen, wie er es bisher jedes Mal getan hatte, wenn ihr Vater
unterwegs gewesen war. Auch jetzt plusterte er sich auf und redete mit
dem asturischen Anführer - dem Mörder ihres Vaters -, als sei dieser ein
geehrter Gast. An seiner Stelle hätte sie die Männer aufgerufen, ihren
toten Häuptling zu rächen. Aber dafür ist er zu feige, dachte sie
hasserfüllt.
Graf Roderich schien sich nicht für den Einwand des Alten zu
interessieren, sondern lenkte sein Pferd näher an Okin und stieß ihn mit
der Fußspitze an. "Du und deine Leute, ihr werdet König Aurelio die
Treue schwören und mir in Zukunft Tribut entrichten. Sonst komme ich
zurück, und dann bleibt von eurem Stamm nicht einmal mehr der Name
übrig!"
Unter den Männern und Frauen, die sich bis jetzt ängstlich im
Hintergrund gehalten hatten, schwoll wütendes Gemurmel auf. Doch niemand
wagte, sich gegen die dreisten Forderungen des asturischen Grafen zu
stellen. Maite schämte sich immer mehr für ihre Leute, die vor dem
Asturier kuschten, anstatt ihn aus dem Sattel zu reißen und für Ikers
Tod bezahlen zu lassen.
Inzwischen hatte Estinne ihren Griff gelockert, so dass Maite sich mit
einem Ruck befreien konnte. Voller Zorn rannte sie auf Roderich zu. Ihr
Onkel sah sie kommen und streckte unwillkürlich den Arm aus, um sie
aufzuhalten. Doch ehe sie ihn erreicht hatte, trat er einen Schritt
zurück und grub seine Daumen in den Gürtel, als ginge ihn das, was nun
folgte, nichts an.
Als Maite das Pferd des Asturiers erreichte, begriff sie, dass sie
nichts gegen den Mann ausrichten konnte. Sie besaß ja nicht einmal ein
Messer. In ihrer Verzweiflung schlug sie mit ihren Fäusten gegen sein
rechtes Bein und schrie ihm dabei sämtliche Flüche
ins Gesicht, die sie kannte.
Verblüfft ließ Roderich sie ein paar Augenblicke lang gewähren, dann
griff er nach unten, packte sie am Genick und hielt sie so von sich weg,
dass ihre Fäuste ihn nicht mehr erreichen konnten.
"Wer ist dieses Mädchen?", fragte er.
"Ikers Tochter Maite", erklärte Okin, ohne zu zögern.
"Ein mutiges Ding! Nun, wir werden diese Wildkatze schon zähmen."
Roderich lachte und reichte Maite an einen seiner Krieger weiter. "Hier,
Ramiro! Pass auf die Kleine auf. Du solltest sie fesseln, denn sie
schielt mir zu sehr nach unseren Dolchen. Zu Hause wird Alma sich ihrer
annehmen. Wenn einer so ein Ding zurechtstutzen kann, dann sie."
Seine Reiter stimmten in sein Lachen ein, denn die Beschließerin der
Burg wurde nicht umsonst Alma der Drache genannt. Bei der würde die
Kleine kuschen müssen, wenn sie nicht den Hintern versohlt bekommen
wollte. Den Hass, der aus Maites Augen sprühte, nahm keiner von ihnen
ernst. Sie sahen in ihr nur ein Kind, das sich bald in die neuen
Gegebenheiten einfinden würde.
Graf Roderich wandte sich noch einmal an Okin. "Du weißt jetzt, wer eure
Herren sind! Halte dich daran, sonst kostet es euch beim nächsten Mal
mehr als nur ein paar Tote." Er warf dem Leichnam des Häuptlings einen
Blick zu, der einem erlegten Hirsch hätte gelten können, und gab seinen
Männern das Zeichen, ihm zu folgen.
Maite wehrte sich verzweifelt, doch Ramiro gab ihr eine Ohrfeige, die
ihr die Sinne zu rauben drohte. Bevor sie sich wieder aufraffen konnte,
hatte der Asturier einen rauhen Strick um ihre Handgelenke gewickelt und
sie vor sich auf das Pferd gesetzt. Als sie in ihrer Wut mit ihren Füßen
gegen den Hals des Pferdes trat, erhielt sie die nächste Ohrfeige und
musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Schmerz zu schreien. Sie
war Ikers Tochter und würde vor den Asturiern keine Schwäche zeigen. Das
Pferd erneut zu treten, wagte sie jedoch nicht, und sie konnte auch die
Tränen
nicht aufhalten, die ihr nun, da das Heimatdorf immer weiter hinter ihr
zurückblieb, aus den Augen rannen. (...)
Iny Lorentz: "Die Rose von Asturien"
Knaur, 2009. 800 Seiten.
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Asturien im anbrechenden Mittelalter:
Einst hatte Graf Roderich einen Rivalen getötet und dessen Tochter Maite
gefangen genommen. Zwar konnte das Mädchen damals fliehen, doch ihr Hass
auf den Grafen und seine Sippe ist nie erloschen.
Als Maite nun erfährt, dass die Tochter dieses Grafen den Halbbruder des
Frankenkönigs heiraten soll, ersinnt sie einen raffinierten Plan.
Zunächst gelingt ihre Rache, doch Maite hat die Rechnung ohne die Liebe
gemacht ...
Hinter dem Namen Iny Lorentz verbirgt sich ein Münchner Autorenpaar,
dessen erster historischer Roman "Die Kastratin" die Leser auf Anhieb
begeisterte. Seither folgt Erfolgsbuch auf Erfolgsbuch.