Szczepan Twardoch: "Drach"
Ein
absoluter Geniestreich
Wer anno 2014 Szczepan Twardochs Debütroman "Morphin" gelesen
hat, konnte vermuten, dass dieser Erstling nur der Auftakt zu vielen
hervorragenden Romanen des 1979 geborenen polnischen Autors sein
würde. Bereits in "Morphin" konnte man die immense
erzählerische Begabung des jungen Polen bewundern, die eine
Kombination aus origineller und komplexer Erzähltechnik,
stilistisch hervorragender Prosa und einer so natürlich
erscheinenden, fesselnden dramatischen Pranke in sich vereint, so dass
es auf den knapp 600 Seiten keinen einzigen Durchhänger gab.
Da saß jedes Wort, jede Idee, jede Entwicklung. Vielleicht
eines der besten Debüts, die dieser Rezensent je gelesen hat.
Jetzt ist der zweite Roman Twardochs auf Deutsch erschienen, und man
kommt aus dem Staunen gar nicht heraus, denn "Drach" legt die Latte
noch einmal höher.
Leicht hat es sich der Autor nicht gemacht, denn die wirklich
allwissende Erzählerin dieses unvergesslichen Romans ist
niemand Geringerer als die Erde selbst. Es ist die Geschichte einer
schlesischen Familie, die 1906 einsetzt, als der achtjährige
Josef Magnor Zeuge einer blutigen Schweineschlachtung wird. Bezeichnend
setzt Twardoch hier schon die Vorzeichen für das, was auf den
folgenden 400 Seiten bestimmend sein wird.
Blut wird viel fließen, das weiß man aus der
Geschichte, und auch die Familie Magnor wird nicht verschont bleiben,
das ahnt man hier sehr schnell. Nicht nur der Erste Weltkrieg, sondern
auch der Zweite Weltkrieg, der Holocaust, die Okkupation durch die
Sowjetmächte, die neue Grenzziehung, die teilt, was vorher
gemeinsam war: all das ist nicht Kulisse, sondern Ausgangspunkt
für diesen viele Jahrhunderte umfassenden Familienroman, der
virtuos aufzeigt, welche Möglichkeiten die Literatur
eigentlich hat
"In den Menschen dagegen setzt sich die Wut in dünnen
Schichten - in den Köpfen und Herzen derer, die entschieden
haben, dass sie Polen sein werden, und derer, die entschieden haben,
dass sie Deutsche sein werden, und derer, die einfach das eine oder
das
andere waren, ohne je zu entscheiden, und sogar in den Köpfen
derer, wie Josef, die sich nicht fragten, wer sie sind, die sich
einfach nicht länger die herrschaftlichen Mädchen
anschauen wollten, die so anders waren als ihre eigenen Matjchas, in
allen setzt sich die Wut."
Twardoch lässt die Erde allerdings nicht linear oder
chronologisch erzählen, sondern allwissend und
zeitunabhängig. Die Erde sieht alles, versteht alles, mehr als
die Protagonisten, weiß Bescheid über die
Vergangenheit und die Zukunft. Es ist meist dieser eine Flecken Erde,
Polen und Umgebung, der hier im Mittelpunkt steht, jedoch immer die
Geschichte anderer Familienmitglieder beleuchtend. So kann es
passieren, dass die Erde in einem Absatz Josef Magnor 1921 und seinem
Urenkel 2014 abwechselnd die Ehre gibt. Das erfordert am Anfang eine
vielleicht längere Phase des Einlesens, eventuell auch einen
zweiten oder gar dritten Ansatz. Die Mühe lohnt sich allemal,
denn wenn man Twardochs Rhythmus verinnerlicht hat, kommt man ihm
sowieso nicht mehr aus.
Immer wieder rutscht die Prosa, die glasklar, präzise und
nüchtern ist, in eine Art niederschlesischen Dialekt, welcher
der deutschen Sprache, so die editorische Notiz, näher ist als
der oberschlesische Dialekt des Originals. Das, wie auch die
Übersetzung per se, ist Olaf Kühl großartig
gelungen. Zwei oder drei orthografische Fehler, die sich in die
Erstauflage eingeschlichen haben, verzeiht man hier sehr gerne.
Evokative Bilder, die sich beim Leser einprägen, bestimmen die
düstere, apokalyptische, teilweise auch archaisch mystische
Stimmung. Da geht es ungeschönt grausam zur Sache, wenn Josef
in den Schützengräben in Frankreich direkt in der
Mitte des Geschehens ist, oder wenn die Auswüchse diverser
nationalistischer Irrungen zu sinnlosen Morden und Grausamkeiten
führen, wenn die Eifersucht die Oberhand erhält, und
wenn die Erde davon erzählt, wie der Mensch es schafft, sich
selbst doch immer wieder daran zu hindern, in Ruhe und Frieden leben zu
können. Diese erzählende Stimme ist Szczepan Twardoch
einfach so großartig gelungen, dass man viele Passagen
einfach mehrmals lesen wird, allein schon deshalb, weil man begierig
darauf ist, zu erfahren, wie der junge Autor das gemacht hat.
"In Dunkelheit wird der Körper bleiben, und ich
spüre, wie er langsam in mich einsickert und in meinem
Körper zu fließen beginnt, wie er in alle Richtungen
zerfließt, bis er von den Bäumen aufgesogen und zu
etwas anderem wird."
Josef Magnors Figur ist so etwas wie ein primus inter pares, dessen
Erlebnisse und Handlungen ausschlaggebend für die Lebenslinien
der Menschen, die mit ihm verwandt sind, bleiben. Er heiratet, ohne zu
lieben, verirrt sich ins Bett der minderjährigen Caroline, was
letztendlich dazu führt, dass er, im Moment der Eifersucht,
Caroline und einen Nebenbuhler ermordet. Er flüchtet ins
Bergwerk und verlässt dabei seine Frau, wo er zu "Drach" wird,
einem nackten, verwilderten, unter der Erde lebenden Mann. In der
Zwischenzeit geht das Leben weiter, und die Erde erzählt dem
Leser unentwegt, wie sich verschiedene Leben entwickeln, alle feinen
Verästelungen der Protagonistinnen und Protagonisten, ebenso
wie Entwicklungen, die teilweise gar nichts oder nur entfernt mit einem
Hauptgeschehen in Verbindung gebracht werden können. Als Drach
Jahre später aus seinem Erdrefugium ins Leben
zurückkehrt, sind an die zwanzig Jahre vergangen, und der
Zweite Weltkrieg ist in vollem Gange. Sein bester Freund, der
später in Mauthausen sterben wird, rettet ihn, indem er ihn in
eine Irrenanstalt
einweisen lässt.
"Danach lieben sie sich erneut. Keiner von ihnen hat eine
theoretische Vorstellung von der Kunst
der Liebe. Josef hat ab und
zu
mit den Kameraden geredet, er weiß schon, dass man sich mit
der Frau auch so in den Federn tollen kann, dass es keine Kinder gibt,
doch das bleibt eine Welt für sich, die Josef
draußen vor Carolines Fenster lässt."
Nikodem, der Urenkel Josef Magnors, ist ein ebenso Getriebener wie sein
Urgroßvater. Nikodem ist erfolgreicher Architekt, hat Geld,
teure Autos, ist verheiratet und hat eine Tochter. Auch er
verlässt Frau und Tochter, um zu einer jüngeren
Geliebten zu ziehen, der er eine Wohnung besorgt hat. Als die Geliebte
ihn verlässt, bemerkt er, zu spät, die Sinnlosigkeit
dieses Lebens.
Dazwischen verwebt Twardoch höchst effizient,
überzeugend und einfach, man verzeihe die Superlative,
genialisch die Geschichte der Anderen. Derer, die mit den Magnors und
ihren Familien in Berührung kommen. Ebenso wird die Geschichte
Polens zum integrativen und prägenden Teil dieses
großartigen Romans, bei dem man nach 413 Seiten bitter
enttäuscht zur Kenntnis nehmen muss, dass man das Ende
erreicht hat.
"Drach" ist die Chronik einer Familie. "Drach" ist ebenso eine
Geschichte von Sein und Vergehen, von Liebe und Eifersucht, von Leben
und Tod, sowie von der blutrünstigen Geschichte des
zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Geschichte, die wir alle nur allzu gut
zu kennen glauben. Szczepan Twardoch schafft es in diesem Roman, dass
man all das so liest, als würde man erstmals davon lesen oder
hören. Und das ist eine erstaunliche Leistung des jungen
Autors.
Es bleibt zu hoffen, dass der neueste Roman von Szczepan Twardoch,
"Krol", den er soeben abgeschlossen hat, sehr bald auch auf Deutsch
erscheinen wird.
(Roland Freisitzer; 03/2016)
Szczepan
Twardoch: "Drach"
(Originaltitel "Drach")
Übersetzt von Olaf Kühl.
Rowohlt Berlin, 2016. 413 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors:
"Der Boxer" zur
Rezension ...
"Morphin"
Ein faszinierender Held, ein gewaltiges Panorama.
Warschau 1939: Leutnant Konstanty Willemann, vor dem Krieg ein
Bonvivant und
Dandy, streift durch die zerbombte Stadt, in der die deutsche
Besatzung alle Freiheit
erstickt. Konstanty, väterlicherseits
selbst Deutscher, ist zerrissen zwischen seinem unsteten Leben mit
rauschhaften Nächten und der Sorge um die Zukunft seiner
Ehefrau und des kleinen Sohns. Doch dann schließt Konstanty
sich dem Widerstand an. Gut getarnt und tadellos Deutsch
sprechend,
wagt er immer riskantere Aktionen - und lernt sich selbst als einen
erschreckend Anderen kennen. Eine konspirative Reise mit der
undurchschaubaren Adeligen Dzidzia führt ihn durch eine
Vorhölle verwüsteter Landschaften in das noch heile
Budapest.
Die Fahrt wird für Konstanty zur Prüfung,
ob er sich dem Untergang, der Warschau ergriffen hat und ihn selbst
mitzureißen droht, noch entziehen kann. (rororo)
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