(...)
Vorn am Rande des Berggipfels standen wir nun, und sahn hinaus, in den unendlichen
Osten.
Diotimas Auge öffnete sich weit, und leise, wie eine Knospe sich aufschließt,
schloß das liebe Gesichtchen vor den Lüften des Himmels sich auf, ward lauter
Sprache und Seele, und, als begänne sie den Flug in die Wolken, stand sanft
empor gestreckt die ganze Gestalt, in leichter Majestät, und berührte kaum mit
den Füßen die Erde.
O unter den Armen hätt ich sie fassen mögen, wie der Adler
seinen Ganymed, und hinfliegen mit ihr über das Meer und seine Inseln.
Nun trat sie weiter vor, und sah die schroffe Felsenwand hinab. Sie hatte ihre
Lust daran, die schröckende Tiefe zu messen, und sich hinab zu verlieren in
die Nacht der Wälder, die unten aus Felsenstücken und schäumenden Wetterbächen
herauf die lichten Gipfel streckten.
Das Geländer, worauf sie sich stützte, war etwas niedrig. So durft ich es ein
wenig halten, das Reizende, indes es so sich vorwärts beugte. Ach! heiße zitternde
Wonne durchlief mein Wesen und Taumel und Toben war in allen Sinnen, und die
Hände brannten mir, wie Kohlen, da ich sie berührte.
Und dann die Herzenslust, so traulich neben ihr zu stehn, und die zärtlich kindische
Sorge, daß sie fallen möchte, und die Freude an der Begeisterung des herrlichen
Mädchens!
Was ist alles, was in Jahrtausenden die Menschen taten und dachten, gegen Einen
Augenblick
der Liebe? Es ist aber auch das Gelungenste, Göttlichschönste
in der Natur! dahin führen alle Stufen auf der Schwelle
des Lebens. Daher kommen wir, dahin gehn wir. (...)
(aus "Hyperion oder der Eremit in Griechenland" von Friedrich Hölderlin)