Ein Brief an den Mond
No.
1
Stille glänzende Freundin!
Ich habe Sie lange heimlich geliebt; als ich noch Knabe war, pflegt'
ich schon in den Wald zu laufen und halbverstohlen hinter 'n
Bäumen nach Ihnen umzublicken, wenn Sie mit bloßer Brust
oder im Negligé einer zerrissenen Nachtwolke vorübergingen.
Einst abends fragte ich, was Sie immer so unruhig am Himmel wären,
und warum Sie nicht bei uns blieben. "Sie hatte, ach!" hub meine Mutter
an und setzte mich freundlich auf ihren Schoß, "sie hatte einen
kleinen lieben Knaben, der hieß Endymion, den hat sie verloren
und sucht ihn nun allenthalben und kann den Knaben nicht wieder finden"
- und mir trat eine Träne ins Auge. O, Madam! mir ist seitdem oft
eine ins Auge getreten - -
Sie scheinen ein weiches schwermütiges
Herz zu haben. Der Himmel über Ihnen ist Tag und Nacht voll Jubel und
Freudengeschrei, daß seine Schwellen davon erbeben, aber ich habe Sie nie in der
fröhlichen Gesellschaft des Himmels gesehn. Sie gehen immer, allein und traurig,
um unsre Erde herum, wie ein Mädchen um das Begräbnis ihres Geliebten, als wenn
das Rauschen von erstickten Seufzern des Elendes, und der Laut vom Händeringen
und das Geräusch der Verwesung Ihnen süßer wären als der Päan des Orions und das
hohe Allegro von der Harfe des Siebengestirns. Sanftes sympathetisches Mädchen!
Erlauben Sie, daß ich meinen Gramschleier einen Augenblick vom Gesicht tue, Ihre
Hand zu küssen; erlauben Sie, daß ich Sie zur Vertrauten meiner wehmütigen
Kummerempfindung und melancholischen Schwärmereien mache und in Ihren keuschen
Schoß weine. Und
Jupiter breite ein dünnes Rosengewölk über die Szene! Der Leser
aber denke sich dies Gemälde, von etlichen Liebesgöttern gehalten, als ein Cul
de Lampe unter dem Vorbericht dieses sonderbaren Briefwechsels.
Brief an den Mond
No. 2
- Sie haben ihn zerrissen, Madam! Ach,
die Thrazischen Weiber haben den Orpheus zerrissen! Und er war ein Engel im
Schleier der menschlichen Natur, groß und gut! der wahrhaftige Adam
der Griechen - lassen Sie mich um ihn klagen. Nicht mit Geschrei und Tränen;
mit dem ernsten Schweigen wenn Geschrei und Tränen zu wenig sind und nur stille
Zückungen, wie Blitze, im verstörten Gesicht flattern und auf den blassen Lippen!
Und sollt' ich nicht? Denn sie winden sich, wie die giftige schreckliche Hydra
um Laokoons Hüften bis hinauf an den Nacken; er ringt
umsonst, das Ungeheur von sich zu streifen; und steht da, ein trauriges
Jammerbild, und seine Kinder um ihn! -
Auf diesen harten unverdaulichen Bissen
will ich Ihnen zur Aufheiterung von Daphnes
Begräbnis erzählen. Niemand hatte von unsrer Liebe gewußt; und, als sie das
Mädchen dahertrugen, kam ich wie von ohngefähr, sah nach dem Sarge hin!! und
ging vorüber; als aber der Grabhügel wieder allein war, und die liebe stille
Nacht ihn bedeckte - doch was erzähle ich Ihnen, Sie haben mich ja auf dem Grabe
gesehn.
Brief an den Mond
No. 3
Ich komme eilig zu Ihnen mit einer Trän' im Auge, heilige Klaggestalt! Heimchen der Natur! Sie wimmern zu hören, und mich einen Augenblick in den Falten Ihres sanften sympathetischen Gewandes zu verbergen - O, es dauert mich so, daß Sie Ihren kleinen Endymion verloren haben!
(von Matthias Claudius)
Ein Buchtipp:
Martin Geck: "Matthias Claudius. Biografie eines
Unzeitgemäßen"
Die große Biografie zum 200. Todestag
Sein Abendlied "Der Mond ist aufgegangen" kennt noch
heute jedes Kind, doch der Autor dieser Zeilen, der Dichter und
Journalist
Matthias Claudius, droht in Vergessenheit zu geraten. Dabei lohnt es sich,
Claudius und seine Welt neu zu entdecken, wie uns Martin Geck
in seiner großen Biografie eindrucksvoll zeigt. Denn in Matthias Claudius, dem
umtriebigen Redakteur des berühmten "Wandsbeker Boten", spiegeln sich die
widersprüchlichen Strömungen jener Ära zwischen Romantik und Aufklärung: Er
war zugleich loyaler Untertan und Kämpfer gegen Fürstenwillkür, frommer Christ
und Freimaurer, er schien wenig lebenstüchtig und gehörte doch zu den
einflussreichsten und meistgelesenen Autoren des 18. Jahrhunderts.
In einer Epoche, in der vor allem Kopf und Vernunft zählten,
appellierte er an Herz und Gefühl und schrieb stets mit einer
scheinbar kindlichen Naivität. Das trug ihm zwar eine enorme
Popularität bei seinen Lesern, mitunter aber auch die Herablassung
seiner Zeitgenossen ein. Doch wie viel Kluges und Zeitkritisches in
Claudius' vermeintlich naiven Zeilen steckt und warum es sich lohnt,
diesen Dichter und sein Werk wiederzuentdecken, zeigt Martin Geck in
seiner Biografie - das Porträt eines Unzeitgemäßen und
seiner Zeit. (Siedler)
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