Junge Katzen

(...) Kaum mehr als ein Buch hatte jede gewogen, eins von denen, die in der Küche lagen, über Ernährung und Fitneß, und jetzt wog die Braunweiße schon so viel wie ein Bildband, der über Landhäuser in Italien, auf dem Couchtisch seit dem Tag, als ihr alter Vater noch ein Jahr älter geworden war und sie aufgehört hatte, ein Kind zu sein. Zwei Monate war das her, aber die Kleine konnte sich noch an jede Minute erinnern, an dieses ganze Fest mit den Leuten, die sonst nur paarweise auftauchten, an solchen Abenden aber in Scharen; und immer dieselben, als dürften sie die Stadt nicht verlassen und würden auch nie weniger, höchstens dünner und blasser. Sie war auf der Treppe zum oberen Stock gesessen, wo schon getanzt wurde, kein schlechter Platz, da ging nur ab und zu wer rauf oder runter, und sie rückte ein Stück, das war alles. Ganz im Winkel der Treppe saß sie, barfuß, auf dem Schoß die zwei Katzen, jede so leicht wie ein Ratgeber, und sah auf die Wand gegenüber. Dort lief ein Film, ohne Ton, aber das Bild riesengroß, mit dem neuen Ding, das sich ihr Vater selbst geschenkt hatte, voll auf die Wand projiziert, und am Ende des Abends wußte sie etwas über sich und die Welt, das sie vorher nicht gewußt hatte, auch wenn gar nicht viel passiert war – ein paar Gesichter und ein paar Worte, und ein Kätzchen, das keinen Namen hatte; und plötzlich war da etwas zuviel in ihr, um noch ganz Kind zu sein, und immer noch viel zuwenig, um auch nur annähernd als erwachsen durchzugehen. Bis zu diesem Abend wußte die Kleine vor allem, daß sie geliebt wurde und hübsch war oder auch andersherum. Nur daß es hübsche und liebenswerte Mädchen nicht erst seit heute gab, ja daß ihr ganzes verrücktes Jungsein nichts Neues war, traf sie einigermaßen unvorbereitet auf dem Fest ihres Vaters: der nun schon auf die Sechzig zuging. Kein Vater ihrer Freundinnen war älter, zweiundfünfzig war das äußerste, aber Pias Vater hatte noch kein graues Haar, jedenfalls keins, das man sehen konnte, und beim Stadtmarathon machte er auch mit, während ihrer bloß beim Feiern dabei war, wenn am Ende Zigarren geraucht wurden, nicht etwa beim Tanzen. Nur bei eigenen Festen drehte er irgendwann durch, und jedesmal floh sie auf den Balkon, wenn er seine Gleitsichtbrille abnahm und kurz darauf Elvis und Bob Dylan nachmachte. Doch auf dieser Geburtstagsparty oder Fete, wie ihre Eltern solche verräucherten Zusammenrottungen nannten, hatte er nicht gesungen, sondern sich zu ihr auf die Treppe gesetzt, während auf der Wand gegenüber scheinbar noch eine Fete lief, mit hunderttausend Leuten statt fünfzig oder wieviel in der Wohnung waren und immer nur kurz auf den Film sahen, wenn sie die Treppe hinuntergingen, die meisten mit einem schwachen Kopfschütteln, ehe der Blick zu seinem Spielzeug ging, dem kleinen Gerät, mit dem er alles, was er je auf Kassette oder DVD aufgenommen hatte, so groß an die Wand werfen konnte, daß man schon Angst bekam, und für diesen Abend hatte er einen Film über ein Festival ausgesucht, eins, das irgendwann im vorigen Jahrhundert in Amerika stattgefunden hatte, auch wenn er von nur knapp vierzig Jahren sprach: fünfunddreißig, Süße, so lange ist Woodstock jetzt her (...)


(aus
Bodo Kirchhoff: "Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer")
Bodo Kirchhoff ist nicht nur für die große erzählerische Qualität seiner Romane bekannt, sondern auch für die Dichte und Schärfe seiner Erzählungen, die hier erstmals in einem Band versammelt sind – der darüber hinaus mehrere bisher unveröffentlichte Geschichten sowie drei Erzählungen aus der Gegenwart enthält.
Geordnet in der Zeitfolge ihres Entstehens, geben uns die Erzählungen zunächst einen Eindruck von Kirchhoffs Frühwerk, das in seiner Radikalität noch heute singulär in der deutschsprachigen Literatur dasteht und entsprechend polarisiert. Etwa dort, wo Kirchhoff in Die Einsamkeit der Haut mit sezierendem Blick über die Käuflichkeit von Liebe schreibt. Später hat Kirchhoff dann andere Register gezogen: In seinem phantasiereichen und eleganten, wunderbar ironischen Reigen Dame und Schwein gelingt es ihm, Sprache und Eros so spielerisch wie ernst zu verbinden. Meisterhaft auch die filigrane Erzählkunst in Ferne Frauen und in Katastrophen mit Seeblick, Geschichten aus Kirchhoffs Wahlheimat am Gardasee.
Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer versammelt zum einen sämtliche früheren Erzählungen Bodo Kirchhoffs, zum anderen bisher unveröffentlichte und neue Geschichten. Kirchhoff hat alle, auch die bereits veröffentlichten Erzählungen, für diese Ausgabe nochmals anhand der Originalmanuskripte und -notizen neu bearbeitet.
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Literaturempfehlung:

Bodo Kirchhoff: "Wo das Meer beginnt"
Wer bin ich, wenn ich begehre? Und welche Grenzen überschreite ich dabei? Kardinalfragen für Viktor Haberland seit einem Vorfall am Ende der Schulzeit mit Tizia, seiner Partnerin bei den Proben zum Sommernachtstraum. Damals kam es zu einer außerordentlichen Lehrerkonferenz, und nur ein alter, einzelgängerischer Lehrer machte sich für den Jungen stark. Inzwischen ist Haberland Anfang dreißig und bereitet für ein deutsches Kulturinstitut in Lissabon einen Abend unter dem Thema Das traurige Ich vor. Auftreten soll unter anderem ein Hirnforscher mit seiner Neurologie der Romantik und eine Schauspielerin, die Gedichte vorträgt. Auf entsprechende Anfragen meldet sich zu seiner Überraschung Tizia, eben das Mädchen von einst, jetzt am Theater, ohne zu wissen, wer sie da engagieren will. Viktor liest zum ersten Mal die Aufzeichnungen der Gespräche, die sein alter Lehrer damals mit ihm geführt hat. Und bevor es zum Aufeinandertreffen von Tizia und Viktor in Lissabon kommt, versteht Viktor, wer er sein kann im Begehren des anderen.
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