(...)
Sobald sich Marie allein befand, schritt sie schnell dazu, was ihr zu
tun recht auf dem Herzen lag, und was sie doch nicht, selbst
wußte sie nicht warum, der Mutter zu entdecken vermochte.
Noch immer hatte sie den kranken Nußknacker eingewickelt in
ihr Taschentuch auf dem Arm getragen. Jetzt legte sie ihn behutsam auf
den Tisch, wickelte leise, leise das Tuch ab, und sah nach den Wunden.
Nußknacker war sehr bleich, aber dabei lächelte er
so sehr wehmütig freundlich, daß es Marien recht
durch das Herz ging. "Ach, Nußknackerchen," sprach sie sehr
leise, "sei nur nicht böse, daß Bruder Fritz dir so
wehe getan hat, er hat es auch nicht so schlimm gemeint, er ist nur ein
bißchen hartherzig geworden durch
das wilde Soldatenwesen,
aber sonst ein recht guter Junge, das kann ich dich versichern. Nun
will ich dich aber auch recht sorglich so lange pflegen, bis du wieder
ganz gesund und fröhlich geworden; dir deine Zähnchen
recht fest einsetzen, dir die Schultern einrenken, das soll Pate
Droßelmeier, der sich auf solche Dinge versteht." - Aber
nicht ausreden konnte Marie, denn indem sie den Namen
Droßelmeier nannte, machte Freund Nußknacker
ein
ganz verdammt schiefes Maul, und aus seinen
Augen fuhr es heraus, wie grünfunkelnde Stacheln. In dem
Augenblick aber, daß Marie sich recht entsetzen wollte, war
es ja wieder des ehrlichen Nußknackers wehmütig
lächelndes Gesicht, welches sie anblickte, und sie
wußte nun wohl, daß der von der Zugluft
berührte, schnell auflodernde Strahl der Lampe im Zimmer
Nußknackers Gesicht so entstellt hatte. "Bin ich nicht ein
töricht Mädchen, daß ich so leicht
erschrecke, so daß ich sogar glaube, das
Holzpüppchen da könne mir Gesichter schneiden! Aber
lieb ist mir doch Nußknacker gar zu sehr, weil er so komisch
ist, und doch so gutmütig, und darum muß er gepflegt
werden, wie sich's gehört!" Damit nahm Marie den Freund
Nußknacker in den Arm, näherte sich dem Glasschrank,
kauerte vor demselben, und sprach also zur neuen Puppe: "Ich bitte dich
recht sehr, Mamsell Clärchen, tritt dein Bettchen dem kranken
wunden Nußknacker ab, und behelfe dich, so gut wie es geht,
mit dem Sofa. Bedenke, daß du sehr gesund, und recht bei
Kräften bist, denn sonst würdest du nicht solche
dicke dunkelrote Backen haben, und daß sehr wenige der allerschönsten
Puppen solche weiche Sofas besitzen."
Mamsell
Clärchen sah in vollem glänzenden Weihnachtsputz sehr
vornehm und verdrießlich aus, und sagte nicht "Muck!" "Was mache ich
aber auch für Umstände", sprach Marie, nahm das Bette
hervor, legte sehr leise und sanft Nußknackerchen hinein,
wickelte noch ein gar schönes Bändchen, das sie sonst
um den Leib getragen, um die wunden Schultern, und bedeckte ihn bis
unter die Nase. "Bei der unartigen Cläre darf er aber nicht
bleiben," sprach sie weiter, und hob das Bettchen samt dem darinne
liegenden Nußknacker heraus in das obere Fach, so
daß es dicht neben dem schönen Dorf zu stehen kam,
wo Fritzens Husaren kantonierten. Sie verschloß den Schrank
und wollte ins Schlafzimmer, da - horcht auf Kinder! - da fing es an
leise - leise zu wispern und zu flüstern und zu rascheln
ringsherum, hinter dem Ofen, hinter den Stühlen, hinter den
Schränken. - - Die Wanduhr schnurrte dazwischen lauter und
lauter, aber sie konnte nicht schlagen. Marie blickte hin, da hatte die
große vergoldete Eule, die darauf saß, ihre
Flügel herabgesenkt, so daß sie die ganze Uhr
überdeckten und den häßlichen Katzenkopf
mit krummen Schnabel weit vorgestreckt. Und stärker schnurrte
es mit vernehmlichen Worten: "Uhr, Uhre, Uhre, Uhren,
müßt alle nur leise schnurren, leise schnurren. -
Mausekönig hat ja wohl ein feines Ohr - purrpurr - pum pum
singt nur, singt ihm altes Liedlein vor - purr purr - pum pum schlag an
Glöcklein, schlag an, bald ist es um ihn getan!" Und pum pum
ging es ganz dumpf und heiser zwölfmal! - Marien fing an sehr
zu grauen, und entsetzt wär sie beinahe davongelaufen, als sie
Pate Droßelmeier erblickte, der statt der Eule auf der
Wanduhr saß und seine gelben Rockschöße
von beiden Seiten wie Flügel herabgehängt hatte, aber
sie ermannte sich und rief laut und weinerlich: "Pate
Droßelmeier, Pate Droßelmeier, was willst du da
oben? Komm herunter zu mir und erschrecke mich nicht so, du
böser Pate Droßelmeier!" - Aber da ging ein tolles Kichern
und Gepfeife los rundumher, und bald trottierte und lief es hinter den
Wänden wie mit tausend kleinen Füßchen und
tausend kleine Lichterchen blickten aus den Ritzen der Dielen. Aber
nicht Lichterchen waren es, nein! kleine funkelnde Augen, und Marie
wurde gewahr, daß überall Mäuse
hervorguckten und sich hervorarbeiteten. Bald ging es trott - trott -
hopp hopp in der Stube umher - immer lichtere und dichtere Haufen
Mäuse galoppierten hin und her, und stellten sich endlich in
Reihe und Glied, so wie Fritz seine Soldaten zu stellen pflegte, wenn
es zur Schlacht gehen sollte. Das kam nun Marien sehr possierlich vor,
und da sie nicht, wie manche andere Kinder, einen natürlichen
Abscheu gegen Mäuse hatte, wollte ihr eben alles Grauen
vergehen, als es mit einemmal so entsetzlich und so schneidend zu
pfeifen begann, daß es ihr eiskalt über den
Rücken lief! - Ach was erblickte sie jetzt! - Nein,
wahrhaftig, geehrter Leser Fritz, ich weiß, daß
ebensogut wie dem weisen und mutigen Feldherrn Fritz Stahlbaum dir das
Herz auf dem rechten Flecke sitzt, aber, hättest du das
gesehen, was Marien jetzt vor Augen kam, wahrhaftig du wärst
davongelaufen, ich glaube sogar, du wärst schnell ins Bett
gesprungen und hättest die Decke viel weiter über die
Ohren gezogen als gerade nötig. - Ach! - das konnte die arme
Marie ja nicht einmal tun, denn hört nur Kinder! - dicht dicht
vor ihren Füßen sprühte es wie von
unterirdischer Gewalt getrieben, Sand und Kalk und
zerbröckelte Mauersteine hervor und sieben
Mäuseköpfe mit sieben hellfunkelnden Kronen erhoben
sich recht gräßlich zischend und pfeifend aus dem
Boden. Bald arbeitete sich auch der Mausekörper, an dessen
Hals die sieben Köpfe angewachsen waren, vollends hervor und
der großen mit sieben Diademen geschmückten Maus
jauchzte in vollem Chorus dreimal laut aufquiekend das ganze Heer
entgegen, das sich nun auf einmal in Bewegung setzte und hott, hott -
trott - trott ging es - ach geradezu auf den Schrank - geradezu auf
Marien los, die noch dicht an der Glastüre des Schrankes
stand. Vor Angst und Grauen hatte Marien das Herz schon so gepocht,
daß sie glaubte, es müsse nun gleich aus der Brust
herausspringen und dann müßte sie sterben; aber nun
war es ihr, als stehe ihr das Blut in den Adern still. Halb
ohnmächtig wankte sie zurück, da ging es klirr -
klirr - prr und in Scherben fiel die Glasscheibe des Schranks herab,
die sie mit dem Ellbogen eingestoßen. Sie fühlte
wohl in dem Augenblick einen recht stechenden Schmerz am linken Arm,
aber es war ihr auch plötzlich viel leichter ums Herz, sie
hörte kein Quieken und Pfeifen mehr, es war alles ganz still
geworden, und, obschon sie nicht hinblicken mochte, glaubte sie doch,
die Mäuse wären von dem Klirren der Scheibe
erschreckt wieder abgezogen in ihre Löcher. - Aber was war
denn das wieder? - Dicht hinter Marien fing es an im Schrank auf
seltsame Weise zu rumoren und ganz feine Stimmchen fingen an:
"Aufgewacht - aufgewacht - wolln zur Schlacht - noch diese Nacht -
aufgewacht - auf zur Schlacht." - Und dabei klingelte es mit
harmonischen
Glöcklein gar hübsch und anmutig! "Ach
das ist ja mein kleines Glockenspiel", rief Marie freudig, und sprang
schnell zur Seite Da sah sie wie es im Schrank ganz sonderbar leuchtete
und herumwirtschaftete und hantierte. Es waren mehrere Puppen, die
durcheinanderliefen und mit den kleinen Armen herumfochten. Mit
einemmal erhob sich jetzt Nußknacker, warf die Decke weit von
sich und sprang mit beiden Füßen zugleich aus dem
Bette, indem er laut rief: "Knack knack - knack - dummes Mausepack -
dummer toller Schnack - Mausepack - Knack - Knack - Mausepack - Krick
und Krack - wahrer Schnack."
(....)
(aus "Nußknacker und Mäusekönig" von E.T.A. Hoffmann)